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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ich Ihnen seinen Namen sagen würde, könnte sein, dass Sie ihn kennen.«
    »Das brauchen Sie nicht.«
    »Nein. Ach, nein. Nicht notwendig.«
    Sie verzieht das Gesicht, ein wenig bitter schluckend, und endet mit einem leichten Schmunzeln, das mich abfertigt. Ich wende mich um, fast rechtzeitig, um es nicht zu sehen.
    Ich trete auf die Straße hinaus, es ist an dem langen Abend immer noch hell. Ich laufe und laufe. In dieser Stadt meiner Phantasie gehe ich an hohen Mauern vorbei steile Hügel hinauf und hinunter und sehe im Geiste dieses Mädchen Patricia. Mädchen, Frau, die Art von Frau, die ihrer Tochter den Namen Samantha gibt – sehr schlank, dunkel, modisch gekleidet, etwas nervös, etwas künstlich. Ihre langen schwarzen Haare. Ihre langen schwarzen Haare ungekämmt und ihr Gesicht fleckig. Sie sitzt im Dunkeln. Sie geht in den Zimmern umher. Sie versucht, sich im Spiegel zuzulächeln. Sie versucht, Make-up aufzulegen. Sie vertraut sich einer Frau an, geht mit einem Mann ins Bett. Sie geht mit ihrer Tochter in den Park, aber nicht in denselben Park. Sie meidet bestimmte Straßen, schlägt nie bestimmte Zeitschriften auf. Sie leidet gemäß der Regeln, die wir alle kennen und die sinnlos und unumstößlich sind. Wenn ich an sie denke, sehe ich diese ganze Art von Liebe, wie du sie gesehen haben musst oder siehst, als etwas, das in der Ferne vor sich geht; ein seltsamer, nicht einmal bemitleidenswerter Aufwand; ein unverständliches Ritual in einer unbekannten Religion. Habe ich Recht, komme ich dir nahe, ist das wahr?
    Aber du warst derjenige, das vergesse ich immer wieder, du warst derjenige, der es zuerst sagte .
    Wie sollen wir dich verstehen?
    Sei’s drum. Ich habe sie erfunden. Ich habe dich erfunden, soweit es meine Zwecke anbelangt. Ich habe erfunden, dich zu lieben, und ich habe deinen Tod erfunden. Ich habe auch meine Tricks und meine Falltüren. Ich verstehe zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, was sie bewirken, aber ich muss vorsichtig sein, ich werde nichts gegen sie sagen.

Das gefundene Boot
    Am Ende der Bell Street, der McKay Street, der Mayo Street begann die Flut. Es war der Wawanash River, der in jedem Frühjahr über die Ufer trat. In manchem Frühjahr, sagen wir, in einem von fünf, bedeckte er die Straßen auf dieser Seite der Stadt, überspülte die Felder und bildete einen flachen, kabbeligen See. Das vom Wasser zurückgeworfene Licht machte alles so hell und kalt, wie es in einer Stadt am Ufer der großen Seen ist, und weckte oder erneuerte in den Menschen bestimmte vage Hoffnungen auf eine Katastrophe. Hauptsächlich am späten Nachmittag und am frühen Abend gab es Leute, die hinauspilgerten, um das Wasser zu betrachten und zu erörtern, ob es noch stieg und ob diesmal die Stadt überschwemmt werden könnte. Im Allgemeinen waren sich jene unter fünfzehn und über fünfundsechzig am sichersten, dass dieser Fall eintreten würde.
    Eva und Carol fuhren auf ihren Fahrrädern hinaus. Sie verließen die Straße – es war das Ende der Mayo Street, hinter allen Häusern – und radelten geradewegs auf eine Wiese, über einen Drahtzaun hinweg, der vom Gewicht des Schnees im Winter völlig plattgedrückt worden war. Sie rollten noch ein Stück, bis das lange Gras sie aufhielt, dann legten sie ihre Fahrräder hin und gingen ans Wasser.
    »Wir müssen uns einen Baumstamm suchen und drauf reiten«, sagte Eva.
    »Spinnst du, wir werden uns die Beine abfrieren.«
    »Spinnst du, wir werden uns die Beine abfrieren!«, sagte einer der Jungen, die auch am Rand des Wassers waren. Er sprach in beleidigtem, weinerlichem Tonfall, so, wie Jungen Mädchen nachahmten, obwohl Mädchen überhaupt nicht so redeten. Die Jungen – sie waren zu dritt – gingen alle in dieselbe Schulklasse wie Eva und Carol und waren ihnen namentlich bekannt (sie hießen Frank, Bud und Clayton), aber Eva und Carol, die sie von der Straße aus gesehen und erkannt hatten, würdigten sie keines Wortes oder Blickes, verrieten auch mit keinem Zeichen, dass sie ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hatten. Die Jungen schienen dabei zu sein, ein Floß zu bauen, aus Treibholz, das sie aus dem Wasser gefischt hatten.
    Eva und Carol zogen Schuhe und Strümpfe aus und wateten hinein. Das Wasser war so kalt, dass ihre Beine schmerzten, als schössen blaue elektrische Funken durch ihre Adern, aber sie gingen weiter, zogen den Rock hoch, von hinten durch die Beine und vorn gebündelt, damit sie ihn halten konnten.
    »Sieh mal die Enten

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