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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Verbindung zu meiner Vergangenheit wiederherstelltest, zu meinem jungen Ich, das den Kinderwagen über das Universitätsgelände schob, unschuldig ohne eigenes Verschulden. Wenn ich damals Liebe entfachen und jetzt annehmen konnte, war weniger vergeudet, als ich gedacht hatte. Wesentlich weniger, als ich gedacht hatte. Mein Leben zerfiel also doch nicht in lauter Einzelteile, war nicht gänzlich verloren.

    Ich beschließe also, am ersten Mai abzureisen. Ich habe zwei freie Monate vor mir, bevor eines der Kinder wieder zu mir nach Hause kommt, bevor die Sommerkurse anfangen. Ich fliege zu der Stadt, in die ich während all der Zeit meine Briefe geschickte habe. Meine freudigen Briefe, meine schwatzhaften und vertraulichen Briefe, meine besorgten und schließlich flehentlichen Briefe. In die ich sie immer noch schicken würde, wenn ich nicht so schlau gewesen wäre, von deinem Tod Notiz zu nehmen.
    Die Stadt, in der du lebtest und die du mir in deinen Briefen sarkastisch, aber insgesamt zufrieden beschriebst. Voll mit alten Kleppern und verwirrten Touristen, sagtest du. Nein. Voll mit alten Kleppern wie mir , sagtest du und machtest dich wie üblich älter, als du warst. Du liebtest das, so zu tun, als seist du müde und träge, voller Gleichgültigkeit. Ich hielt das für eine Attitüde, um ehrlich zu sein. Ich konnte, auch aus Mangel an Phantasie, einfach nicht glauben, dass es vielleicht die Wahrheit war. Du hast mir einmal gesagt, es sei dir völlig egal, ob du bald stirbst oder noch fünfundzwanzig Jahre lang lebst. Von einem Geliebten eine Blasphemie. Du hast mir gesagt, du dächtest nie ans Glücklichsein, das Wort käme dir nicht in den Sinn. Welche Arroganz, dachte ich und fasste diese Dinge so auf, als hätte ein junger Mann sie gesagt, unwillens, mich anzustrengen, um einen Mann zu verstehen, für den diese Aussagen die schlichte Wahrheit waren, in dem eine Kraft, die ich von ihm erwartete, erschöpft oder gänzlich in Vergessenheit geraten war. Obwohl ich aufgehört hatte, mir die Haare zu färben, und, wie ich dachte, gelernt hatte, auf einer gemäßigten Ebene der Erwartungen zu leben, begegnete ich dir mit Hoffnungen, riesigen Hoffnungen. Ich weigerte mich, weigere mich noch, dich zu sehen, wie du dich selbst zu sehen schienst.
    In meiner Vorstellung bist du vermutlich wie eine warme und fühlende Flut, hast du mir einmal geschrieben, und ich habe die übliche menschliche Sorge, überschwemmt zu werden, wie Fluten es nun einmal tun .
    Ich schrieb zurück, dass ich nichts weiter als das zahmste Bächlein sei, in das du waten könntest. Du wusstest es besser.
    Wie ich zu der Zeit versuchte, dich zu bestricken und zu täuschen, sowohl in meinen Briefen als auch, wenn wir zusammen waren! Die Hälfte meiner Sorge in der Liebe galt bald dem Problem, die Liebe zu bemänteln, sie harmlos und fröhlich zu machen. Wie demütigend diese Scharaden waren. Und du, du hast immer auf eine bestimmte Art gelächelt, auf eine sanfte Art; ich glaube, du hast dich meinetwegen ziemlich geschämt.
    Ich finde ein großes Mietshaus nahe am Meer, ein Gebäude, das meiner Ansicht nach aus den zwanziger Jahren stammt, gelblicher Putz mit abblätternden Fensterbrettern, über der Haustür ein leeres Medaillon und eine unentzifferbare Schriftrolle. Viele alte Leute, wie du mir gesagt hattest, die in dem glitzernden Meereslicht vorbeigehen. Ich laufe durch die Straßen. Ich gehe gar nicht erst zum Friedhof. Ich weiß ohnehin nicht, welcher es ist. Ich gehe auf Bürgersteigen, über die du wahrscheinlich gelaufen bist, und betrachte Dinge, die du mit ziemlicher Sicherheit gesehen hast. Schaufenster, die dein Spiegelbild enthielten und mir jetzt meines zeigen. Es ist ein Spiel. Ich finde diese Stadt völlig anders als die Städte, die ich gewohnt bin. Die steilen Straßen, die hell verputzten Häuser, viele von ihnen mit Flachdächern und erbaut in dem seltsamen Tankstellenstil, der vor dem Zweiten Weltkrieg als »modern« galt. Schmale Schmuckfenster aus Glasbausteinen. Manchmal ein spanisches Dach oder deplatzierte Bullaugen und Decks. Die berühmten Gärten. Rhododendren, Azaleen, Hortensien in roten, orangen und violetten Farbtönen, die den Augen weh tun. Tulpen groß wie Becher, endloses Protzen. Und die Geschäfte sehr merkwürdig für jemanden aus einer Industrie- und Universitätsstadt, für jemanden, der trotz schicker Einkaufszentren an eine gewisse kommerzielle Schlichtheit und Zweckmäßigkeit gewöhnt ist. Eisdielen im

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