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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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    Liebling,
    erinnerst Du Dich an den verrückten alten Mann von nebenan? Er ist gekommen und hat die Dinger an dem rosa Baum im Garten gegessen. Ich meine den Zierpflaumenbaum, das müssen Zierpflaumen sein, sie sind hart wie Steine und bestimmt nicht dazu da, um von irgendwem gegessen zu werden, aber ich sah, wie er sie abriss und sich eine Handvoll nach der anderen in den Mund stopfte. Ich saß auf dem Boden im Wintergarten auf den violetten Kissen, wo Du mit mir …
    Mein Liebling,
    letzte Nacht habe ich von Dir geträumt. Es war ein schöner, seltsamer Traum. Du hieltest meine Haare in den Händen und sagtest: Die sind viel zu schwer für dich, du wirst sie abschneiden müssen, sie werden dir die Kraft nehmen. Und die Art, wie Du das sagtest, war so liebevoll, so mitfühlend, als meintest Du etwas anderes und nicht nur meine Haare. Woher soll ich wissen, Liebster, was Du in meinen Träumen sagst, wenn Du mir nie schreibst? Also bitte schreibe mir und verrate es mir, verrate mir, was Du in meinen Träumen zu mir sagst …
    Liebster,
    ich bemühe mich immer wieder, mich zu beherrschen und Dir nicht zu schreiben, denn ich glaube, ich muss Dir die Wahl lassen, ich will Dich nicht verfolgen und quälen, aber es ist so schwer, wenn Du einfach so vom Erdboden verschwindest, ich fühle mich entsetzlich so allein. Wenn Du mir sagen würdest, Du willst von mir nichts mehr hören und sehen, dann könnte ich mich damit abfinden, ich glaube wirklich, das könnte ich, es ist nur so schrecklich, nichts zu wissen. Ich könnte mit meinen Gefühlen fertig werden, wenn ich müsste, und mich davon erholen, Dich zu lieben, aber ich muss wissen, ob Du mich noch liebst und willst, also bitte, bitte, sag mir, ja oder nein .
        Und der letzte Brief, eigentlich überhaupt kein Brief, nur große Krakel auf dem Papier ohne Anrede oder Unterschrift:
    Bitte schreib mir oder ruf mich an, ich werde noch verrückt. Ich hasse es, so zu sein, aber es ist mehr, als ich ertragen kann, also flehe ich Dich an .

    »Ich habe diese Briefe nicht geschrieben.«
    »Sie sind das nicht?«
    »Nein. Ich weiß nicht, wer sie ist. Ich weiß es nicht.«
    »Warum haben Sie sie dann genommen?«
    »Ich habe es nicht begriffen. Ich wusste nicht, was Sie meinten. Ich habe in letzter Zeit einen großen Kummer gehabt, und manchmal … höre ich nicht richtig hin.«
    »Sie müssen mich für verrückt gehalten haben.«
    »Nein. Ich wusste nicht, was ich denken soll.«
    »Es ist nämlich so – mein Mann ist gestorben. Er starb im März. Das sagte ich Ihnen ja schon. Und diese Briefe kommen immer weiter. Es gibt keinen Absender. Keinen Familiennamen. Sie sind in Vancouver abgestempelt, aber was hilft das? Ich habe damit gerechnet, dass sie hier auftaucht. Sie klingt allmählich völlig verzweifelt.«
    »Ja.«
    »Haben Sie sie alle gelesen?«
    »Ja.«
    »Haben Sie so lange gebraucht, um zu merken, dass ein Irrtum vorliegt?«
    »Nein. Ich war neugierig.«
    »Sie kommen mir bekannt vor. Das geht mir bei vielen Leuten so, wegen des Ladens. Ich sehe so viele Leute.«
    Ich nenne ihr meinen Namen, meinen richtigen Namen, warum nicht? Er sagt ihr nichts.
    »Ich sehe so viele Leute.« Sie hält die Tüte mit den Briefen über den Papierkorb, lässt sie fallen. »Ich kann sie nicht länger aufbewahren.«
    »Nein.«
    »Sie wird eben leiden müssen, ich kann’s nicht ändern.«
    »Irgendwann wird sie dahintersteigen.«
    »Was, wenn nicht? Na, ist nicht meine Sorge.«
    »Nein.«
    Ich will nicht mehr mit ihr reden, ich will nicht mehr ihre Geschichten hören. Die Luft um sie herum ist schneidend, als strahlte sie ein schädliches Licht aus.
    Sie schaut mich an. »Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, Sie könnten das sein. Sie sehen nicht viel jünger aus als ich. Meines Wissens waren sie immer jünger.«
    Dann sagt sie: »Sie wissen mehr über mein Leben als die Mädchen, die für mich arbeiten, oder meine Freunde oder irgendjemand sonst, außer ihr vermutlich. Es tut mir leid. Ich möchte Sie wirklich nicht mehr sehen.«
    »Ich wohne nicht hier. Ich fahre wieder weg. Vielleicht sogar schon morgen.«
    »So ist eben das Leben, wissen Sie. Eben das Übliche. Was nicht heißt, wir hatten zusammen kein gutes Leben. Wir hatten keine Kinder, aber wir taten, was wir wollten. Er war ein sehr netter Mann, gut zu leiden. Und erfolgreich. Ich war immer der Meinung, er hätte noch erfolgreicher sein können, wenn er sich stärker angestrengt hätte. Aber trotzdem. Wenn

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