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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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wachzuhalten, begann ich sie dann zu necken, tat so, als glaubte ich, sie sei in ihn verliebt. Ich sagte, ich hätte gesehen, wie er ihr auf der Treppe beim Hinaufgehen unter den Rock guckte. Ich sagte, ich würde einen Schneeball an die Wand zwischen seinen Fenstern werfen, um ihn für sie herunterzuholen. Anfangs hatte sie Spaß an diesen Spinnereien, aber nicht lange, und sie fing an zu frieren, geriet in Verwirrung und bekam schlechte Laune, ging von sich aus zur Hauptstraße zurück und zwang mich, ihr zu folgen.
    Dabei war all diese wüste, grobe Ausgelassenheit so weit wie möglich von meinen innersten Träumen entfernt, die von zärtlichsten Begegnungen handelten, von keuschen Umarmungen, die in heilige Leidenschaft übergingen, von einer Harmonie, überschattet durch die unweigerliche Trennung, von hoher romantischer Liebe.

    Tante Madge war glücklich verheiratet gewesen. Ihre glückliche Ehe blieb in Erinnerung und wurde oft erwähnt, sogar in jener Gesellschaftsschicht, in der es gewöhnlich für besser gehalten wird, solche Dinge ungesagt zu lassen. (Sogar heute, wenn man Leute fragt, wie es ihnen geht, wird die Antwort oft lauten, dass es ihnen gut geht, sie haben sich zwei Autos gekauft, sie haben sich eine Geschirrspülmaschine gekauft, und solche Antworten beruhen nur zum Teil auf schlichtem, natürlichem, von Armut erzeugtem Materialismus; sie entspringen auch einem abergläubischen Taktgefühl, das sogar um Wörter wie glücklich, besorgt, traurig einen Bogen macht.)
    Tante Madges Ehemann war ein geruhsamer Farmer mit politischen Interessen gewesen, rechthaberisch, halsstarrig und unterhaltsam. Es gab nie Kinder, die ihre Gefühle für ihn hätten abschwächen können. Sie genoss es stets, mit ihm zusammen zu sein. Sie schlug keine Einladung aus, mit ihm in die Stadt zu fahren, mit ihm über Land zu fahren, obwohl sie jedes Mal ihr Leben riskierte, wenn sie in sein Auto stieg. Er war ein schrecklicher Fahrer und in seinen späteren Jahren halb blind. Sie weigerte sich, ihn zu beschämen, indem sie etwa selber Autofahren lernte. Sie hielt in allem zu ihm. Sie hätte als ein Beispiel, eine ideale Ehefrau hingestellt werden können, nur dass sie nie den Eindruck machte, Opfer zu bringen, sich zu bescheiden, ihre Pflicht zu tun, wie man es bei Idealen erwartet. Sie war fröhlich, manchmal frech, also wurde sie für ihre Liebe nicht besonders geachtet, sondern galt als glücklich oder vernarrt, je nachdem. Nach seinem Tod hatte sie eigentlich kein Interesse mehr an ihrem Leben; sie betrachtete es als eine Wartezeit – sie glaubte fest und buchstäblich an den Himmel –, aber sie war zu wohlerzogen, um sich der Trübsal hinzugeben.
    Die Ehe meiner Großmutter war eine ganz andere Angelegenheit gewesen. Es hieß, sie hatte meinen Großvater geheiratet, als sie immer noch einen anderen Mann liebte, auf den sie allerdings sehr wütend war. Meine Mutter erzählte mir das. Sie liebte Geschichten, besonders solche voller Tragik und Verzicht und sonderbarer Schicksalswendungen. Tante Madge und meine Großmutter erwähnten natürlich nie etwas davon. Aber als ich heranwuchs, stellte ich fest, dass alle darüber Bescheid zu wissen schienen. Der andere Mann blieb in der Gegend, wie damals üblich. Er betrieb eine Farm und heiratete drei Mal. Er war ein Vetter sowohl meines Großvaters als auch meiner Großmutter, also war er ebenso oft in ihrem Haus zu Gast wie sie in seinem. Bevor er seiner dritten Frau einen Heiratsantrag machte – so erzählte es mir meine Mutter –, suchte er meine Großmutter auf. Sie kam aus der Küche und fuhr mit ihm auf seinem Einspänner die Straße hinauf und hinunter, für alle sichtbar. Bat er sie um Rat? Um Erlaubnis? Meine Mutter glaubte fest daran, dass er sie gebeten hatte, mit ihm durchzubrennen. Ich habe meine Zweifel. Sie wären zu der Zeit beide um die fünfzig gewesen. Wo hätten sie hingehen können? Außerdem waren sie Presbyterianer. Niemand hatte ihnen je ein Fehlverhalten vorgeworfen. Große Nähe, Unmöglichkeit, Verzicht. Das läuft auf eine nie endende Liebe hinaus. Und ich glaube, das wäre die Wahl meiner Großmutter gewesen, diese sich selbst glorifizierende, sich selbst verleugnende, gefährliche Leidenschaft, nie befriedigt, nie gewagt, auf dass sie ein Leben lang anhielt. Auch nie gestanden, vielleicht nur das eine Mal, ein oder zwei Mal, unter stark belastenden Umständen. Wir dürfen nie wieder davon sprechen .
    Mein Großvater war kein Mann der

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