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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nähen, hatte sich das Kleid wahrscheinlich selbst geschneidert, da sie wusste, was ihr stand. Aber hat sie auch die Kleider ihrer Schwestern angefertigt, und was sollen wir daraus schließen? Meine Großmutter ist aufgeputzt in etwas mit weiten Ärmeln, einem breiten Samtkragen und einer Art Weste mit gekreuzten Samtpaspeln; in der Taille sitzt es nicht gut. Sie trägt diese Gewandung ohne Überzeugung und sogar mit verschämter, halb grienender, halb verzweifelter Entschuldigung. Sie hat etwas Lausbubenhaftes, der Haarwust aufgerollt, doch nach vorn rutschend, in Gefahr, herunterzufallen. Aber sie trägt einen Trauring; mein Vater war schon geboren. Sie war zu der Zeit als Einzige schon verheiratet; die älteste, auch die größte der Schwestern.
    Beim Abendessen fragte meine Großmutter: »Wie geht’s deiner Mutter?«, und sofort sank meine Stimmung in den Keller.
    »Gut.«
    Es ging ihr nicht gut, es würde ihr nie mehr gut gehen. Sie litt an einer langsam fortschreitenden, unheilbaren Krankheit.
    »Das arme Ding«, sagte Tante Madge.
    »Ich habe die größten Schwierigkeiten, sie am Telefon zu verstehen«, sagte meine Großmutter. »Mein Eindruck ist, je schlimmer ihre Stimme wird, desto mehr will sie reden.«
    Die Stimmbänder meiner Mutter waren teilweise gelähmt. Manchmal musste ich als ihre Dolmetscherin fungieren, eine Aufgabe, die mich rasend vor Scham machte.
    »Würde mich nicht wundern, wenn’s ihr da draußen einsam wird«, sagte Tante Madge. »Die arme Seele.«
    »Es macht doch keinen Unterschied, wo sie ist«, sagte meine Großmutter, »wenn niemand sie verstehen kann.«
    Meine Großmutter wollte dann einen Bericht über den Zustand unseres Haushalts bekommen. Hatten wir die Wäsche gewaschen, hatten wir sie getrocknet, hatten wir das Bügeln erledigt? Das Backen? Die Socken meines Vaters gestopft? Sie wollte uns eine Hilfe sein. Sie buk Kekse und Muffins, einen Apfelkuchen (bekamen wir einen Apfelkuchen?); brachte man ihr Sachen zu flicken, dann flickte sie alles. Und bügelte es auch. Sie kam für einen Tag zu uns hinaus, um zu helfen, sobald die Straßen frei waren. Der Gedanke, dass wir Hilfe brauchten, war mir peinlich, und ich tat mein Möglichstes, um diese Besuche abzuwenden. Wenn meine Großmutter kam, musste ich nämlich versuchen, das ganze Haus zu putzen, so gut es ging, die Schränke aufzuräumen, bestimmte Schandflecke – eine Bratpfanne, die ich immer noch nicht ausgescheuert hatte, einen Korb mit zerrissenen Sachen, die angeblich längst geflickt waren – unter die Spüle oder die Betten zu schieben. Aber ich putzte das Haus nie gründlich genug, meine Aufräumaktion erwies sich als unzulänglich, die Schandflecke kamen unweigerlich ans Licht, und es war klar, wie sehr wir versagt hatten, wie katastrophal wir hinter diesem Ideal von Ordnung und Sauberkeit, einem anständigen Haushalt, zurückgeblieben waren, an das ich ebenso sehr wie alle anderen glaubte. Daran zu glauben war nicht genug. Und ich musste mich nicht nur für mich selbst, sondern auch für meine Mutter schämen.
    »Deine Mutter ist nicht gesund, sie schafft das nicht alles«, sagte meine Großmutter in einem Tonfall, der Zweifel vernehmen ließ, ob überhaupt je alles geschafft worden wäre.
    Ich bemühte mich, gute Berichte abzuliefern. Früher, als so etwas manchmal stimmte, sagte ich, dass meine Mutter rote Bete eingeweckt hatte oder damit beschäftigt war, durchgescheuerte Laken in der Mitte durchzureißen und mit den Außenkanten zusammenzunähen, damit sie länger hielten. Meine Großmutter nahm die Bemühung wahr und spürte die durchsichtige Unwahrheit dieses Bildes (unwahr, auch wenn die Einzelheiten stimmten); sie sagte nur: Ach, wirklich?
    »Sie streicht die Küchenschränke an«, sagte ich. Das war keine Lüge. Meine Mutter strich unsere Schränke gelb an und malte auf jede der Schubladen und Türen eine Verzierung: Blumen oder Fische oder ein Segelboot oder sogar eine Fahne. Obwohl ihre Arme und Hände zitterten, konnte sie den Pinsel für kurze Zeit führen. Also waren diese Bilder gar nicht so schlecht. Trotzdem hatten sie etwas Grobes und Krasses an sich, etwas, das die Starre und Intensität des Krankheitsstadiums widerzuspiegeln schien, in das meine Mutter inzwischen gelangt war. Meiner Großmutter erzählte ich nichts von ihnen, denn ich wusste, sie würde sie außerordentlich skurril und verstörend finden. Meine Großmutter und Tante Madge glaubten wie die meisten Leute, Häuser sollten derart

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