Was ich dir schon immer sagen wollte
Wehklagen. Er hatte eine Vorliebe fürs Alleinsein, hatte sehr spät geheiratet und hatte die gekränkte Liebste eines anderen Mannes gewählt, aus Gründen, die er niemandem verriet. Im Winter beendete er seine täglichen Arbeiten früh, erledigte alles gründlich und ordentlich. Dann las er. Er las Bücher über Ökonomie und Geschichte. Er lernte Esperanto. Er las sich mehrmals durch Borde mit dicken viktorianischen Romanen. Er sprach nicht über das, was er las. Anders als sein Schwager tat er seine Meinungen nicht kund. Seine Ansprüche an das Leben, seine Erwartungen an andere Menschen schienen so gering zu sein, dass es nie eine Möglichkeit gab, ihn zu enttäuschen. Ob meine Großmutter ihn enttäuscht hatte, insgeheim und so gründlich, dass er daraufhin alle seine Angebote zurückzog, vermochte niemand zu wissen.
Und woher weiß man denn, denke ich, während ich dies niederschreibe, woher weiß ich denn, was ich zu wissen behaupte? Ich habe diese Menschen, nicht alle, aber einige, schon früher benutzt. Ich habe sie überlistet und verändert und umgeformt, damit sie irgend meinen Zwecken entsprachen. Ich tue das jetzt nicht, ich bin so behutsam, wie ich nur kann, aber ich halte inne und stelle mir Fragen, ich empfinde Reue. Dabei tue ich nur im Großen und Öffentlichen, was immer getan worden ist, was meine Mutter und andere Leute taten, als sie mir die Geschichte meiner Großmutter erzählten. Sogar unter diesen verschwiegenen Menschen wurden Geschichten erzählt. Die Leute trugen ihre Geschichten mit sich herum. Meine Großmutter trug die ihre mit sich herum, und niemandem wäre es je in den Sinn gekommen, sie darauf anzusprechen.
Aber das erfasst nur die Tatsachen. Ich habe noch andere Dinge gesagt. Ich habe gesagt, meine Großmutter hätte eine bestimmte Art von Liebe gewählt. Ich habe angedeutet, sie wäre insgeheim hartnäckig und zerstörerisch romantisch gewesen. Nichts, was sie je zu mir oder in meiner Hörweite sagte, würde das bezeugen. Trotzdem habe ich es nicht erfunden, ich glaube fest daran. Ohne irgendeinen Beweis glaube ich es, und so muss ich glauben, dass wir auf andere Art Botschaften erhalten, dass unter uns Verbindungen bestehen, auf die wir uns verlassen müssen, auch wenn sie nicht überprüft werden können.
Dieser Schneesturm erwies sich als besonders schwer und dauerte eine ganze Woche. Aber als ich am dritten Nachmittag in der Schule saß und aus dem Fenster schaute, sah ich, dass der Wind sich offenbar gelegt hatte, Schnee trieb nicht mehr vorbei, und es gab sogar eine Wolkenlücke. Ich dachte sofort und mit Erleichterung, dass ich am Abend nach Hause gehen konnte. Mein Zuhause sah nach zwei Nächten bei meiner Großmutter immer sehr viel besser aus. Es war ein Ort, wo ich nicht so sorgfältig auf das achten musste, was ich tat und sagte. Meine Mutter erhob gegen vieles Einwände, aber in gewisser Weise hatte ich über sie die Oberhand. Schließlich war ich es, die auf dem Herd in Zubern Wasser heiß machte und die Waschmaschine von der Veranda hereinschleppte und jede Woche die Wäsche wusch; die den Fußboden schrubbte und ihr widerwillig endlose Tassen Tee kochte. Also konnte ich Scheißmist sagen, wenn ich die Kehrschaufel in den Herd auskippte und etwas von dem Dreck auf den Herdringen landete; ich konnte sagen, dass ich vorhatte, mich mit Männern einzulassen und zu verhüten und nie Kinder zu kriegen (in Wirklichkeit wünschte ich mir eine beneidenswerte Ehe, sowohl sicher als auch leidenschaftlich, und hatte mir schon das Negligé ausgemalt, das ich tragen würde, wenn mich mein Ehemann und Liebster zum ersten Mal in der Entbindungsstation besuchte); ich konnte sagen, dass ich es ganz in Ordnung fand, in Büchern über Sex zu schreiben, und auch, dass es so etwas wie schweinische Wörter gar nicht gab. Die laute, streitsüchtige, schockierende Person, die ich zu Hause war, hatte mit meinem wahren Ich nicht viel mehr zu tun als die unaufdringliche, zurückhaltende Person, die ich im Haus meiner Großmutter war, aber wenn man beide als Rollen betrachtet, ist leicht zu erkennen, dass die erste mehr Spielraum bot. Ich wurde ihrer nicht so leicht müde, ich wurde ihrer sogar überhaupt nicht müde.
Und Behaglichkeit verliert ihren Reiz. Die gebügelte Bettwäsche, die kuschelige Daunendecke, die Jasminseife. Ich hätte alles ohne Weiteres aufgegeben, um meinen Mantel fallen lassen zu können, wo ich wollte, das Zimmer verlassen zu können, ohne sagen zu müssen,
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