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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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salzige Wasser ab, Agotas feste glatte Haut an seiner, ihr Bein, das ihn umklammert, Agota so dicht an ihn gedrängt, da kommt er in ihrer Hand.
    Sehr lange schon hat er nicht mehr weinen müssen. Und eine schiere Unendlichkeit nicht mehr daran gedacht, wie das gewesen war mit Agota, wie schön. Es ist gut, dass die kleine Schwester nicht da ist.
    Er lebt ja noch!
    Jetzt laufen sie wieder los, vom rechten Ohr aus über die Wange, vom rechten Ohr aus zum Auge hin, vom rechten Ohr aus unter dem Mund vorbei, hin und zurück, immer den gleichen Weg, dreispurig. Immer hin und zurück. Er wischt sich mit der Hand über das Gesicht. Nichts verändert sich. Er wischt noch einmal darüber, die Wange ist schorfig. Er schrubbt mit den Nägeln über den Schorf, spürt Feuchtigkeit, Blut.
    Lassen Sie das!
    Die kleine Schwester ist aber gar nicht im Zimmer. Er öffnet nur einen Moment lang die Augen, alles ist still, nur die Lampe an seinem Bett brennt, nur die Lampe in der Ecke brennt. Es ist egal. Ablöschen. Löschen. Es ist dunkel hinter den Lidern. Der Tod, ob er es spürt, wenn er sich ankündigt, wenn er wirklich kommen will, ob das so sein wird wie heute? Jeden Tag fragt er sich das. Und dann? Licht aus? Licht aus geht leichter als Licht an. Licht aus. Ganz einfach. Ob man dann allein sein wird? Es ist dunkel hinter den Lidern. Über seine Wange läuft etwas Feuchtes. Die Ameisen stehen auf der Stelle, es fühlt sich rot an, ein Trippeln, ein Brennen. Kein Stechen zum Glück. Der verkrebste Lymphknoten drückt auf den Nerv. Irgendwann werde das sehr weh tun, das hatten sie längst prophezeit. Jetzt bekommt er zwei Schmerzmittel. Gemischt. Herausmachen ist zu gefährlich.
    Naumann, sein Arzt: Schauen Sie, der ist so verbacken mit dem Nerv, eine Operation ist viel zu gefährlich.
    Seither regelmäßig die Bestrahlungen.
    Naumann: Bestrahlung funktioniert wie ein Sparbuch.
    Toller Satz.
    Was einem einfällt, und warum und wann? Kettenreaktionen sind das im Kopf, aber wie sie funktionieren, das versteht man nicht immer. Sagt er, fragt er die kleine Schwester, als sie wieder in seinem Zimmer steht; er hat sie vergessen gehabt, er sitzt fast aufrecht im Bett.
    Wie es ohne Agota war, als sie noch lebte, fällt ihm jetzt ein. Immer ein Fehlen, immer eine Lücke, wenn sie nicht da war, wo er war. Und immer die Angst, sie könnte nicht mehr da sein, wenn er wiederkäme, oder nicht mehr wiederkommen, wenn sie weg war. Und immer wieder der Versuch, der nicht recht gelingen wollte, Agota von der Sorge nichts zu zeigen, die eingebrannt war in seinen Körper wie ein Mal, eine Wunde, eine, die gar nie verging und immer wieder ausblutete. Auch nach ihrem Tod war das Leben weniger schön ohne sie, doch merkwürdigerweise konnte er sich an ein Leben ohne sie gewöhnen. Sie war da, in ihm, bei ihm. Tot war sie lebendig. Die Verlustangst war weg. Paradox war dieser Zustand.
    Man denkt in Kurven und um Ecken, sagt die kleine Schwester: Das Gehirn ist ein Flipperautomat. Sie lacht, der Pferdeschwanz wippt.
    Er denkt an eine Schaukel, er denkt daran, wie er, noch gar nicht so ganz lange her, wieder dorthin fuhr, wo er herkommt.
    Sie machen mich froh, sagt er. Er sagt nicht, kennen Sie Polen, er fragt sich nicht einmal, ob sie hören will, was er zu erzählen hat.
    Kasztany jadalne. Esskastanien, sagt er, alles voll mit diesen Igeln, und zwischen diesen stacheligen Dingern auf dem Sand rannten zwei Hunde herum, wie Hasen in einem Feld, bellten, liefen durch den Wald hinab zum Meer, streiften die Wellenkante, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte, bellten wieder, zuerst der eine, dann der andere, schließlich beide fröhlich, raufend; ein braunroter und ein schwarzer. Sie machten einen Bogen wieder hinauf zum Wald, wieder hinunter durch den Sand zum Wasser, umkreisten ihn ohne Absicht, dann rief eine Frau. Zu weit weg, um es verstehen zu können, aber die Hunde verstanden und verschwanden. Ich hatte mich auf einen Baumstumpf in der Sonne gesetzt, die Stadt, Gdynia, habe ich nicht sehen können von dort aus, aber hinter mir war der Wald gewesen mit den Maronenbäumen, von denen die Igel fielen, so haben wir sie als Kinder genannt, je ż .
    Erst nachdem Agota gestorben war, bin ich dorthin zurückgefahren.
    Warum?
    Lass uns mal hinfahren, in deine Gegend, dein Dorf! Agota hat das immer gesagt.
    Und genau dies habe ich nicht tun wollen.
    Warum nicht? Maritas ruhige Stimme.
    Er liebt es, wenn sie fragt.
    Ich weiß es nicht. Ich will das alles

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