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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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kennen diese Stunde. Sie bleibt dann, wenn möglich, bei ihm, die ganze Zeit. Es war immer schon so, soweit er sich erinnern kann, als erwachten alle Geister zu dieser Zeit, wird jeder Gedanke eine Not, wenn er wach ist. Nicht als Kind. Schlaf, schlaf, das konnte er früher noch zu sich selbst sagen, wenn Agota neben ihm lag, und manchmal half das, half, sobald er sich an Agota schmiegen konnte, gegen ihren Rücken, und ihrem Atem folgen, der langsamer war als seiner, dem er sich nicht anpassen konnte, aber der ihn beruhigte. Manchmal schlief er ein, so. Die Kirchturmuhr vor dem Schlafzimmer zu Hause schlug erst wieder um sechs Uhr morgens, an ihr konnte er sich nicht orientieren, aber an der Unruhe in seinen Gedanken, am dunklen Rumoren, an der Welt, die nachts zerbrach, ihn in den Abgrund stürzte, in Schulden, in Krankheit, in raue Gegenden seiner Phantasie, der er sich Minute für Minute ausgeliefert fühlte dann; schwarze Stunde, bevor der Tag sich ankündigte.
    Ich will nicht schlafen. Er sagt es, als müsse die kleine Schwester dafür sorgen, dass es ihm nicht passiert.
    Ich weiß, sagt sie. Aber es macht auch nichts, wenn Sie es tun. Sie lächelt dieses verdammt freundliche Schwesternlächeln, gegen das er nicht ankommt, immerzu meint er, es gelte ihm. Sie wissen genau, was passiert, wenn ich schlafe, er faucht.
    Sie lächelt. Dann schlafen Sie, und das ist gut!
    Er schaut ihr zu, wie sie sich mit einer Hand über den Pferdeschwanz streicht, den die andere Hand festhält, glattes braunes Haar glänzt über ihren oberen Rücken hinab. Er findet das neckisch, wie sie das macht. Sie tut das mit Absicht, denkt er, wehrlos fühlt er sich dann.
    Hören Sie mir überhaupt zu?
    Wenn Sie etwas sagen, schon.
    Er muss lachen.
    Sie setzt sich wieder neben ihn auf den Stuhl, und auch wenn er es wollte, er könnte sie jetzt nicht berühren, weit steht der Stuhl entfernt. Am liebsten würde er sie kneifen, nicht unzüchtig, nur so, dass es ihr ein wenig weh tut.
    Sie haben keine Ahnung, was Sie tun. Sagt er.
    Sie schweigt.
    Paula, sie hat ihn eine halbe Ewigkeit nicht mehr beschäftigt. Kein noch so angestrengtes Erinnern fand ihr Gesicht, aber seit der Krankheit ist sie plötzlich wieder da. Als ihr Verlust noch schmerzte, hatte er gedacht, das bleibt immer. Es war aber nicht so. Liebe vergeht irgendwann. Vielleicht war es auch keine gewesen, vielleicht war es nur diese unruhige Zeit, diese Klemme zwischen Not und Hoffnung, oder nur das endgültige Ende der Kindheit. Er ist nun vier Mal so alt.
    Der Satz fällt ihm ein: Ich mach das dann mal!
    Wie viele Male ich das gesagt habe, sagt er.
    Aber im Dunkeln war das unmöglich gewesen, erzählt er. Man hätte einen kleinen Eisenstift auf die passende Größe zuhobeln müssen, damit die Klinke aufhörte zu leiern. Ich hätte das tun müssen, wer sonst? Ich ging durchs Dunkle an einer Kommode vorbei, die mir zur Orientierung diente, ich wusste, von ihr aus waren es noch zwei gewöhnliche Schritte, dann berührte meine Hüfte das Bett. Aufgeregt und vorfreudig war ich, aber aufgeregter als vorfreudig, weil ich mich wie eine Katze an die Beute, ans Haus habe heranpirschen müssen, durch das Fenster der Kammer fädeln, das lag im Schatten des Nussbaums und unweit vom Schuppenanbau, in dem wir schliefen, Wiech und ich. Sondergenehmigung, weil die bewachte Baracke zu weit weg war. Wiech mit seinem tiefen Schlaf, mit dem knatternden Schnarchen, mit dem hohlen Pfeifen, wenn er den Kopf nach links drehte, Wiech mit der Trichterbrust. Ich dachte immer, Wiech schlief, wenn ich selbst nachts verschwand, aber später schien es, als sei Wiech auch unterwegs gewesen, nachts. Bis heute weiß ich es nicht sicher. Er spürt seine Hand eine Bewegung machen auf der Bettdecke: ratlos, sich heben, sich senken. Mit einem Freund teilte man, wenn es hoch kam, das Brot. Im Vergleich zu mir hatte Wiechek, wenn es stimmte, was gesagt wurde, den weiteren Weg gehabt, den gefährlichen, durch die zwei Nachbarsgrundstücke hindurch, vorbei an den Gänsen von Nanni, die wie Wachhunde lauerten und den Unterschied zwischen Menschen und Katzen genau kannten. Nanni hätte ihn niemals angeschwärzt, aber Franz war nicht wie Nanni, der war ein verbitterter Krüppel, der in den Krieg ziehen wollte und nicht durfte.
    Dafür dreh ich Schrauben für die Judenduschen, so hatte der das immer gesagt!
    Ich kann mich noch gut erinnern, an seinen Spott, seine Niedertracht in der Stimme und die Härte in seinen Gesten, die

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