Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
immer die Luft wegwischten, als brächte Luft einen um den Atem. Franz sah mit hängenden Mundwinkeln und schmalen Augen nur schwarz-weiß, und ein Zwangsarbeiter war per se schon schwarz, auch wenn er die deutsche Sprache konnte, »der Polack«. Und einer, der sich nachts am Gänsezaun vorbeistahl, führte Dunkles im Schilde. Einbeinig stand Franz immer vor dem Haus von Maria Wache, als gehörte sie ihm: Sie war Dreck und dabei blond und schön, aber sie war für den Franz ein Hurenkind, ein Bastard.
Und warum eigentlich hatte Bili ń ski geglaubt, Franz sagte die Wahrheit?
Wiech fickt die Marie, sagte Franz.
Wiech sagte: Nix gemacht.
Warum hatte er Wiech nicht recht Glauben geschenkt? Marie verlor zuerst ein Kind, und dann starb sie Wiech hinterher, wie man es sonst von alten Paaren kannte; noch bevor sie ins Lager gebracht werden sollte, kahlköpfig aber schon.
Dann kam Sascha, und Janek sagte zu ihm: Alle sehen alles, also pass auf.
Aber er selbst machte weiter wie bisher. Und Franz holte sich Tilda ins Haus, nannte sie »Dreck«, wie er zuvor Marie Dreck genannt hatte, weil Frauen nichts taugten, aber immerhin waren sie da und heulten, wenn er sie schlug.
Im Ohr pochte etwas, oder war das die wunde Stelle am Kiefer, die schon so weit ausstrahlte? Die kleine Schwester schwieg. Er sagte nichts vom Schmerz. Er wollte erzählen, jetzt, weiter.
Warum bist du so traurig, habe ich Paula einmal gefragt, und ich sah, dass sie wie meine Mutter den Rosenkranz in der Kittelschürze herumbewegte, ihn festhielt, die Perlen zählte, fast unmerklich bewegte sich dabei ihr Mund, und mitten im stillen Gebet kam die Hand aus der Tasche der dunklen Schürze, während die andere Hand schon auf dem Weg zu ihrem Gesicht war, als mein Blick ihr nachlief. Da lief auch eine Träne über ihre Wange; die sollte ich aber nicht sehen.
Er ist tot, hat sie gesagt.
Über wessen Verlust weinte man? Ich habe nicht weiter gefragt, da zog sie aus der Kittelschürze eine Fotografie, die war ganz zerknittert. Ich sah das Grab und die Kränze und las den Namen auf dem Kreuz: Anton, und irgendein Nachname mit zwei f in der Mitte. Aber vor allem habe ich gedacht, warum trägt eine Frau ein Foto vom Begräbnis ihres Liebsten mit sich herum und nicht das Foto von ihm selbst? Warum? Vielleicht, damit sie seinen Tod glaubte. Aber sooft ich mich bei ihr umschaute, es war nirgends in ihrem Haus eine Fotografie vom lebendigen Anton zu finden. Anton war ein Grab. Als er starb, war er zehn Jahre älter gewesen als ich, damals. Und jetzt hast du, Janek Bili ń ski, dieses Glück; das ist schon mein zweites großes, habe ich damals gedacht. Ich habe überlebt, ich bin nicht in einer Fabrik. Ich habe es mit dem alten Leo gut getroffen. Und nun noch Paula.
Er spürt sein Zögern, als die kleine Schwester fragt: Denken Sie das noch immer?
Wie der Lauf der Zeit die Deutung des eigenen Lebens veränderte! Das sagt er nicht.
Er sagt: Wie ambivalent man schaut, wie sich im Laufe des Lebens Einschätzungen bilden, verworfen werden, neu bilden. Wie sich alles immerzu wieder frisch zusammensetzt, weil man anderswo steht, weil sich Neues ereignet hat dazwischen. Wie sich mit jedem einschneidenden Ereignis Verhältnismäßigkeiten verändern. Vergessen und wieder erinnern, immer gestaltet sich alles um im Kopf, im Gedächtnis, in der Seele wohl auch, im Herzen. So geht das. Sagt er.
Als Ganzes war mein Leben nicht schlecht. Aber stellen Sie sich vor, sagt er, Sie hätten mich mein Leben bewerten lassen, als ich achtzehn war, die Familie gab es nicht mehr, und um mich herum starrten die meisten Menschen misstrauisch auf alles, auf mich. Wie anders ich geantwortet hätte als heute.
Er weiß das nicht, ob das hatte sein müssen mit Paula, oder doch, ja, es hatte sein müssen, damals.
Es war einfach geschehen. Sagt er.
Wie Paula eines Morgens hinterm Haus gestanden hatte, was für ein Bild! Er schlug Holzscheite, klein genug für die Öfen, wie der Alte befohlen hatte, da erkannte er zum ersten Mal die nicht traurige Paula. Sie kam mit Nannis Gänsen vom Bach herauf, von der großen Freiheit hinter den Pflaumenbäumen, wo das Wasser laut über die Steine sprudelte, hinein in den Gumpen. Wenn die Gänse es bis dorthin schafften, erreichten sie mühelos auch die Stelle, an der der Bach den Fluss traf. Sie hätten sich dann mindestens bis in den Bodensee treiben lassen können. Die aufgeregten Gänse schnatterten die Wiese hinauf, der alte Ganter immer voraus und
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