Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
gesehen hat, nur Paula, die erinnerte Gestalt von Paula. Er weiß, dass sie es gewesen sein muss, weil es so wie mit ihr eben nur mit ihr gewesen war. Draußen auf dem Flur eilen Schritte vorbei, irgendwo summt eine Klingel.
Er öffnet die Augen nicht. Die Übung gelingt ihm inzwischen gut. Er kann auf die Erinnerungen ganz geduldig warten, er hat es gelernt, wie das Liegen, wie die Demut vor seinem sich selbst zerschindenden Körper. Es ist wie ein zweites Leben, oder eines, das sich aus der Entfernung neu zusammensetzt, oder aus der Auswahl der Bilder. Türen gehen auf, Türen schließen sich wieder.
Auf dem Flur rennt jemand, sein Herz beschleunigt sich augenblicklich, wie immer, wenn er in Unruhe kommt, in Angst. Manchmal muss er Türen zuschlagen, bevor die Bilder ihn zu quälen beginnen. Die Wand zwischen innen und außen ist dünner geworden, hat gleichsam mit seinem Körper an Substanz verloren, jede unvermittelte Aufregung bereitet ihm Herzklopfen, bereitet ihm Magengrimmen mit den unangenehmen Begleiterscheinungen. Und lieber wäre er wieder zu Hause. Auf dem Flur rennt jemand vorbei, er hört zwei Stimmen, also rennen zwei. Atmen hilft. So lange einatmen wie ausatmen, bis das Herz sich beruhigt, bis es wieder im Gleichmaß ist.
Schon damals hat er das so gemacht. Er saß am Waldrand zwischen den großen Holzbeugen, die er mit seinem Vater aufgestapelt hatte, und zählte jedes Stück Holz, hörte die Schreie der Mutter und zählte, dreihundertsieben, dreihundertacht, er hörte die Schreie von Mili und zählte fünfhunderteinundzwanzig, das war noch lange nicht die erste Beuge, das war erst der Anfang des Nachmittags gewesen. Wie das Holz zunahm, er hat die Zahlen vergessen. Nur dass es dämmerte und sie zu sechst waren, sechs behelmte Soldaten, die den Vater, der heulte, in den Wagen hineindrückten, als wäre er ein Knochenloser.
Ich muss gehen, sagt die kleine Schwester, sie steht auf.
Die Tür klickt ins Schloss. Die kleine Schwester rennt auch auf dem Flur nicht. Es ist gut, dass sie nicht rennt. Bili ń ski atmet. Nun ist es möglich. Der Bauch hebt sich beim Einatmen und senkt sich beim Ausatmen, er zählt mit, er will die Augen jetzt nicht schließen. Schnell wird alles zu Holz. Bei Tag ist das sehr viel einfacher, sich abzulenken, das offene Fenster, der Blick hinüber auf den höchsten Hügel der Stadt erleichtert ihm die Umleitung der Gedanken. Die Stehlampe in der Ecke scheint zu vibrieren, jedenfalls meint er ein leichtes Zittern des Lichtes zu spüren, er schaut weg. Ein Erdbeben ist das nicht. Er nimmt die Enzyklopädie vom Tisch und schlägt sie auf, willkürlich, wie so oft, sie ist dick genug; selten geschieht es, dass er zwei Mal hintereinander auf der gleichen Seite landet. Die Rachenblütengewächse beanspruchen dreizehneinhalb Doppelseiten, und heute ist er auf der achten gelandet, Frühlingsehrenpreis, Veronica Verna, er liebt ihr durchscheinendes leuchtendes Blau, ihre behaarten Blütenblätter, und wie aufrecht sie gegen das Licht steht. Die Gartenarchitekten mochten es nicht, wenn er sich in ihre Angelegenheiten mischte. Wie viele Gärten die verschandeln, das versteht er nicht. Glänzender Ehrenpreis, Glanzloser Ehrenpreis, Persischer Ehrenpreis, Faden-Ehrenpreis, da behaupten die, das sei ein Unkraut. Er hält die Knie etwas angewinkelt, so dass er das schwere Buch anlehnen kann. So ist der Abstand richtig, so braucht er nicht einmal eine Brille zum Lesen. Er mag das Buch besonders gerne, weil die Pflanzen darin handgezeichnet sind, präzise, fein, zart, so schön, wie eben nur die farbigen Abbildungen in guten alten Lexika sind. Das Herz ist ruhig geworden, er lehnt sich zurück, lässt die Knie sinken und hält das Buch auf seinen Oberschenkeln fest. Auf dem Gang ist es nun still. Zum Glück kennen die das hier schon, dass er es mit der Angst zu tun bekommt, wenn es unruhig wird in der Nacht und er zurückbleibt.
Hinter dem Holzstoß hatte er noch verharrt, bis es ganz dunkel geworden war, er kaum noch etwas sehen konnte, aber schon mehrmals Holzscheit für Holzscheit abgezählt hatte, als bekäme er dafür einen Lohn. Er hatte gewartet, um sicherzugehen, dass sie nicht mehr zurückkamen. Aber es war ja sowieso nichts sicher, nur hatte man manchmal etwas Glück oder mehr als sonst. Damals hatten sie gar keines. Im Haus waren die Mutter und Mili, aber es war still geblieben, nachdem die Soldaten mit dem Vater verschwunden waren, kein Laut drang hinaus. Sein Herz hatte
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