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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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Fenster schauen kann, wenn er nicht ganz flach auf dem Rücken liegt. Die kleine Schwester ist nicht da. Es ist immer noch Nacht. Er will doch nicht schlafen. Er hat auch nicht geschlafen, oder? Der Himmel wird von einem roten Streifen Licht in zwei dunkle Stücke geteilt. Was ist das, wird es Morgen? Sehr dünne helle Nebelschleier ziehen vorbei. Das kann nicht sein. Ein wenig so, als befände sich weit unten das Meer. Das ist das Leuchten der Lampe im Fenster, das ist ein Blaulicht, das ist die Leuchte des Hubschrauberlandeplatzes des Klinikums einige hundert Meter nebenan. Nein. Er weiß es nicht. Etwas stimmt nicht. Bili ń ski schaut weg, wischt sich mit der Hand über die Stirn, sie ist nicht feucht, obwohl es sich so anfühlt. Aber er hat doch geschwitzt. Er reibt sich sein Baumwollhemd über die Brust, das feuchte Haar bildet sich gräulich ab durch den dünnen Stoff. Er hat geschwitzt. Er lässt seine Hand wie zur Versicherung liegen. Das Herz schlägt nicht ruhig. Die dunklen Balken des Himmels drücken den roten Streifen immer schmaler. Oder nicht? Er schaltet das Licht überm Bett an. Das ist seine eigene Bewegung, dort im Fenster. Er hebt den Arm und lässt die Hand fliegen, ein Vogel im Fenster, lässt die Hand krabbeln und öffnet dem Tier den Mund. Agota hat sich die Frage auch gestellt, wochenlang bevor sie starb, immer wieder: Habe ich alles erledigt? Ja. Ja. Ja. Als sie es sich endlich selbst glaubte, war sie heiter. Aber er? Die Hand stürzt ab. Habichtflug. Das Fenster zeigt sein Gesicht zum Glück nur als schmalen durchscheinenden Umriss, darin die Augen, die sich dunkel spiegeln. Mehr sieht er nicht von sich, und es ist auch genug.
    Paula hatte er damals nicht einmal erzählt, dass sie zum gehängten Jozwik geführt worden waren. Sie hatte ohnehin davon gewusst, nur gesagt hatte sie nichts. Als wollte sie den Tod totschweigen. Und er? Panische Angst hatte er gehabt. Nur nicht mehr daran denken. Das gelang nicht. Nachts, in den Träumen, zappelten Jozwiks Beine durch die Luft, die später manchmal auch Wiecheks Beine waren, und aus den Füßen lief Blut in eine Blechwanne. Im Schlaf sah er Menschen liegen, zuckend, quiekend, wie Schweine. Nachts, da brach er Jozwik das Genick wie die Soldaten Izys Rücken. Nachts konnte er nicht verhindern, dass Jozwik starb, Wiechek starb, und er hatte Schuld daran. Viele Nächte, monatelang, jahrelang. Er konnte nicht darüber sprechen. Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung waren ihm seine Gedanken, seine Ängste vorgekommen; wenn ich es denke, geschieht es mir auch. Wenn ich davon spreche, bin ich auch bald an der Reihe. Worte schaffen Taten, die Wirklichkeit war ein Fluch.
    Alles, was er dachte, sagte, zu dieser Sache, würde dazu führen, dass es ihm und Paula auch so gehen würde wie Jozwik und seiner Geliebten. Freundin? Wie Wiechek, ohne Grund, oder nicht?
    Sie hatten sowieso wenig gesprochen, Paula und er. Nein, Paula hatte mit ihm wenig gesprochen. Nicht nur mit ihm. Freundin war ein Wort, das nur für legitimierte Lieben galt, oder? Freundin, die hätten nur gelacht. Ihr wollt doch nur Ficken. Euch geht es nur ums Stechen. So sagten sie das. Wahrscheinlich hatte Paula das auch geglaubt, irgendwann. Er öffnet den Mund wie zum Schrei. Sieht man das im Fensterspiegel? Er starrt auf die Fensterglasscheibe und hätte so gerne darin seine Fratze gesehen, aber bei aller Anstrengung klappt das nicht, das dunkle Loch, den Schlund, den sein geöffneter Mund freigibt, den sieht er nur, weil er weiß, dass er dort sein muss. Er hat keine Ahnung, warum er das tut, warum sich dieses Kindergefühl einstellt.
    Wiech! Wie es ihn erwischt hatte, später! Obwohl er alles abstritt. Alles Lüge, Verleumdung, wie er heulte, sich mit den nackten Zehen, den Fingern, den Zähnen ins Gras krallte und biss, als sie ihn abholten, wie Janek hinrannte, schrie: Loslassen! Loslassen! Herumrannte, dachte, er müsste auf der Stelle verrückt werden, Wiech hat nichts gemacht. Ich war es, ich war’s. Die Wörter lauerten bereits im Kehlkopf, hüpften zwischen Zunge und Gaumen, Herz und Verstand, ja und nein, bitte, lasst ihn, nehmt mich, ich bin das doch, ich schlafe mit der Paula, Polack, ich. Nein, feige war er gewesen. Wiechek, bis heute kann er sich das vorstellen, der hat in den klaren Nächten Ausflüge für den schönen Blick auf den Mond gemacht. Bis heute weiß er nicht, was stimmt. Wiech und die Marie? Du musst das sein lassen mit Paula, hatte er sich selbst

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