Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
beschworen.
Er hört nichts auf dem Flur, wo ist die kleine Schwester: Soll er klingeln? Manchmal hält er es aus mit sich alleine, eine Stunde, zwei, vielleicht manchmal etwas mehr. Tagsüber länger, nein, tagsüber kommt oft jemand vorbei, aber mit ihnen redet er kaum.
Zwei Tage ist das erst her, seit die kleine Schwester ihm die Nachricht gebracht hat.
Herr Bili ń ski, ich konnte das eruieren, Paula Bucherer ist tot.
Eruieren!
Seit wann, hätte er fragen können, oder: Woran ist sie gestorben?
Er fragte nichts davon. Nur: Eruieren, woher haben Sie denn dieses furchtbare Wort?
Maritas Schweigen, die zusammengepressten Lippen. Keine Antwort.
Danke schön, das Wort fiel ihm nicht einmal ein in diesem Moment, erst gestern: Danke schön, dass Sie sich für mich erkundigt haben.
Seither sprachen sie wieder. Seither erzählte er wieder.
Paula Bucherer. – Ihren Nachnamen hatte er immer weggeschoben. Und plötzlich war alles wieder da. Leo, der Alte. Das Haus. Die Stube. Der Ofen. Der Tisch. Der Satz: Der Bili ń ski sitzt beim Bucherer und seiner Tochter am Tisch!
Wer hätte das anders herumerzählen können als der verbitterte Franz.
Zu ihm: Wirst jetzt der Schwiegersohn?
Er spürt, wie noch jetzt die Angst kommt. Kein einziges Mal hatte er nach diesem Satz mehr mit Leo am Tisch gesessen; geschweige denn gegessen. Nicht einmal nach dem Schlachten.
Der Tisch war kein Bauerntisch gewesen und hatte überhaupt nicht in die Stube vom Alten gepasst; die Tischfüße mit Löwenköpfen verziert. Immer wieder hatte er erstaunt und verzückt die Löwen unterm Tisch betrachtet, als könnten sie sich bewegen, sogar brüllen. Auf dem Tisch lag am Abend auf einem Tuch ein rundes Brot, ein Stück Schinken. Der Alte hatte gebetet, und Paula eingestimmt, Janek gemurmelt, zuerst in seiner Sprache und bald auf Deutsch. An der Wand neben dem Ofen, wie zu Hause, das Holzkreuz mit einem kupfernen Jesus. Der Alte, wie er betete, das »Vater« betonend, als spräche er ihn an, wie er sich durch das Gebet arbeitete, Bild für Bild, ein Kreuz auf der Stirn schlug, auf der Brust, nach dem Amen, wie er ein Kreuz zum Segen überm Brot schlug, und wenn ein neues Stück Schinken angeschnitten wurde auch. Nickte, ohne Janek, ohne Paula in die Augen zu schauen, in sich gekehrt, ruhend, als sei Essen Meditation; schnitt Brot und vom Schinken drei dicke Scheiben. Sie aßen mit Messern von Brettern. Ohne Gabeln.
Der Bucherer verwöhnt den Polacken! Franz hat das gesagt.
Und der Alte sagte: Bub, da gibt’s nix, du vesperst mit uns in der Stube.
Der Bub hatte Angst. Um Paula, um sich und den Alten. Und wie der Alte ihm deshalb am Abend das Brot vor die Tür auf den Sims stellte, ein Brett, ein Messer, ein Stück Schinken. Und wie er selbst anfing mit Wiech zu teilen, und dann mit dem Nachfolger von Wiech zu teilen, mit Kolja, oben in der Scheune, wo keiner es sah. Sie aßen besser, als es sich für solche wie sie gehörte. Weil der Alte, Leo, nicht tat, was man ihm befahl: Er hasste nicht, sondern beschützte, was zu ihm gehörte. Ihn, Janek, auch. Wie das funktionierte mit dem Hass, hatte er manchmal zusammen mit dem Wiech überlegt, als der noch lebte, woher so ein Hass kam? Aber sie hatten es nicht verstanden, sie waren zu jung.
Sie hatten auf ihren Strohbetten gelegen und still ins Licht zwischen den Ritzen des Daches geschaut, bis es verschwand, manchmal kam es wieder. Dann schien der Mond. Wenn er schien, blieb Janek liegen: Die ganze Welt war dann wacher als gewöhnlich, sogar die Tiere, oder diese erst recht. Nur Wiechek war manchmal unterwegs gewesen in diesen Nächten.
Paula Bucherer ist tot.
Johannes Bucherer. Sagt er zu Marita. Wenn ich Ihnen anfange davon zu erzählen. Er schweigt. Wenn alles erzählt sein wird, ist mein Leben vorbei. Unmittelbar trifft ihn dieser Gedanke.
Die kleine Schwester sagt nichts. Sie sitzt wieder da, auf den Knien die Enzyklopädie, wahrscheinlich hat er lange geschwiegen, gelegen mit geschlossenen Augen, geschlafen, nein, geträumt, er weiß es nicht.
Wie viel Uhr ist es?
Halb zwei.
Wie schaffen Sie das, nicht müde zu werden, hatte er einmal gefragt, am Anfang.
Ich bin es gewohnt. Hatte die kleine Schwester geantwortet.
Das ist keine Erklärung.
Warum machen Sie das?
Weil ich studiere.
Was?
Medizin.
Deshalb die Nachtwachen.
Sitzwachen.
Aber Sie sind doch Krankenschwester.
Ja.
Aber dann können Sie doch als solche arbeiten.
Mach ich doch.
Aber warum sagen Sie dann
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