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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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Sitzwache?
    Weil ich das bin.
    Das merke ich.
    Sie haben lachen müssen.
    Wir haben vor dem Grabstein gestanden, ich und Wiechek.
    Ja. Wiechek, der Mondsüchtige.
    Wenn ich das wüsste? Sagt Bili ń ski. Wenn es wirklich so war, machte das alles noch schlimmer. Er wischt durch die Luft, sieht sich selbst zu, wie seine Hand von rechts nach links durch die Luft greift, weg damit, weg.
    Auf dem Grabstein, sagt er, standen die Eltern; Leopold Max, der Ältere, Josefine, seine Frau, und Hanni Bucherer, Leos Frau, die war ein Jahr zuvor erst gestorben. Ganz klein, unten in der Ecke, das sah nur, wer es sehen wollte, das sah nur, wer sich einen Schritt näher getraut hat, das sah, wer es wissen wollte und sonst niemand; das sah ich, weil ich nicht vor dem Grab, sondern seitlich vom Grab stand, weil ich die Schnecke anschauen wollte, die dort herumkroch und anders aussah als andere Schnecken, ein Tiger. Auf der Schubkarre hatten wir einen rauen Brocken Stein liegen, von einem alten Grab, er sollte hinauf zum Steinmetz, weil so ein Stein tat’s auch für den nächsten Toten noch. Regen fiel in Schnüren vom Himmel, legte sich mit den Böen für Momente quer, wischte den Körper, das Gesicht, die Haare klatschnass, und trotzdem konnte ich nicht weiterlaufen.
    Wer ist das? Fragte ich Wiechek. Der ist ja ganz schnell wieder gestorben. Ich zeigte aufs Grab und Wiech reagierte gar nicht. Wer ist das, Johannes Bucherer?
    Und Wiech zuckte mit den Schultern, das dünne Hemd klebte ihm auf der Haut, er hielt die Griffe fest und die Karre über dem Erdboden und wollte weiter. Ich konnte nicht.
    Lass los, sagte ich, weil Wiech doch ohnehin zu groß war, zu lang, um einen Schubkarren zu führen, schmerzte der gebeugte Gang in seinen Knochen. Wiech war einer für aufrechte Dinge, der konnte sensen, der konnte Obstbäume stutzen, der musste so etwas tun: fegen, anstreichen und über Kopf zimmern, der kam hin, wo sonst keiner mehr hinreichte, der konnte fast in die Dachrinne spucken. Weil er zu lang war für den gewöhnlichen Galgen, machte er den Dreckschweinen Schwierigkeiten, als sie ihn hängten.
    Lass doch die Schubkarre los, sagte ich zu ihm.
    Nein, sagte Wiech.
    Das war Unsinn. Ich sah den Regen auf Wiechs krummen Buckel fallen, der ihm nachts auf der zu kurzen Liege sowieso immer Schmerzen bereitete.
    Jetzt lass ihn los!
    Ich wollte ihm die Hände von den Holzgriffen lösen, aber da ließ Wiech los, endlich.
    Die Schubkarre sank mit den Metallhufen in den feuchten Untergrund, der Stein war zu schwer.
    Jetzt komm doch, sagte Wiech.
    Aber das ging nicht. Warum stand da ein Kind auf dem Grabstein geschrieben? Es war drei Jahre tot. Es hatte ein Jahr gelebt. Wer war das? – Und plötzlich das Dröhnen in meinem Kopf, das düstere Sichgebärden von Gedanken, von Fragen, die Ahnung: Das Bastardwort, das aus Paulas Mund bitter, bitterböse klang, das sie gerne sagte, über den Franz, aus dessen Mund das Bastardwort höhnisch klang, wenn er es über die Marie sagte, und kalt wie das Fallbeil im Winter. Warum ging Paula nie zum Friedhof, warum ging Magda, ihre Schwester dorthin? Fragte ich mich. Warum brachte Magda die Blumen, warum jätete Magda das Grab, warum zündete sie das rote Lichtlein an. Warum wurde die Stirnfalte in Paulas Gesicht tief, wenn Leo sagte, man muss sich ums Grab kümmern? Leo, der Paula nicht anschaute, wenn er das sagte. Paula, die nicht auf den Friedhof ging. Wegen des toten Bräutigams. Wegen der Trauer, wegen des Schmerzes, wegen der Erinnerung. Weil der Bräutigam dann tot war. Mausetot. Unwiederbringlich tot. Tot eben. Herrgott noch mal.
    Er hört sich wieder, hört sich sprechen wie vor gut sechzig Jahren, spürt sich. So stand er da und fragte den Wiech:
    Wer ist der Kleine?
    Wiechek, wie der mit den Schultern zucken konnte, wie der tun konnte, als wäre ihm etwas vollkommen gleichgültig.
    Wiech, habe ich gesagt: Da liegt ein Kind drin.
    Ein totes!
    Der Dornbusch auf dem Grab trug Beeren, die die Vögel nicht liebten, die die Toten auch nicht liebten. Ich war gerne da. Alles war so geordnet, über die Mauer des Friedhofs huschten im Sommer Eidechsen wie auf meinem Bahndamm, zu Hause, jene Kindereidechsen waren so schnell gewesen wie Fliegen, so dass Izy ins Leere geschnappt hatte, dass ihre Kiefer aufeinanderklappten und die hängenden Lefzen vibrierten. Manchmal spazierte auf der Friedhofsmauer eine scheckige Katze, die ließ sich aber nicht streicheln.
    Ich hatte das noch nicht gesehen davor, dass da ein

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