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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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Auge herum, zum Ohr hinüber, zum Mund hinab, trippelten unterm Wangenknochen auf der Stelle, pissten scharf, er rieb sich die Haut, kratzte sich den alten Schorf ab, bis die kleine Schwester in abzulenken versucht hatte. Es ist besser geworden.
    Wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte? Würde er dann Gartenarchitekt werden, oder Botaniker? Wollte er überhaupt noch einmal von vorne anfangen? Wenn er das bestimmen könnte. Noch ein Leben? Noch einmal dieses Leben?
    So lag ich ungefähr, so wie jetzt, denkt er, sagt es schließlich, einundzwanzig Jahre alt war ich, so lag ich, nur ohne körperliche Schmerzen, wochenlang, halb schlafend, halb wachend, versunken, und glaubte, es würde nie mehr gut werden, das Leben. Er lacht auf.
    Kennen Sie das? Fragt er.
    Sie zuckt mit den Schultern.
    Sind Sie noch nie verlassen worden?
    Wieder ihre Augen, die ihn nicht erkennen wollen, Hannahs Augen. Der Pferdeschwanz, wie er mit der Bewegung ihres Kopfes ihren Rücken wischt.
    Nein, sagt sie.
    Nein. Sagt er, nicht wissend, ob das eine Frage war, und nicht, ob er sagen soll: Da haben Sie Glück, oder: Es ist das größte Unglück, das man empfinden kann, aber man gewinnt daraus Kraft.
    Ich bin immer selbst gegangen, sagt die kleine Schwester. Er hört es, aber es erreicht ihn nicht mehr.
    Wie durch einen Korridor geht Bili ń ski zu dem jungen Mann in das Zimmer unterm Dach, er sieht ihn liegen, sieht sich selbst in ihm, sieht sich auf dem Bett mit den hohen Beinen, dem Eichenbett unter der eichenvertäfelten Dachschräge, und jemand öffnet die Tür.
    Jemand öffnete meine Tür, sagt er, als ich bei meinem Onkel im Haus lag nach dem Krieg. Ein Mann stand im Türrahmen, er war mir fremd wie ein Fremder, obwohl ich die Züge seines Gesichts kannte, wenn sich nicht die Angst davorschob und mit ihr diese Fratze, die immer wiederkam, obwohl er mich bestimmt sehr freundlich anschaute, besorgt. Ich hielt die Augen lieber zu. Ich wollte ihn nicht sehen, und er sollte nicht sehen, dass ich ihn wegwünschte, weit weg. Obwohl ich so froh war, dass er da war.
    Sie fragt nicht nach der Angst. Nichts fragt sie. Er stockt, es ist dunkel, dann spürt er wieder, was die Bilder bewegt, das Erzählen bewegt und sagt: Ich hatte geweint, ich hatte mich in den verlorensten Löchern herumgedrückt in Gedanken. Mili, Vater, Mutter, und Izy. Izy und Paula. Ich hatte nichts mehr von zu Hause außer dem Halsband von Izy. Gar nichts. Ich hatte nichts mehr von Paula. Ich wünschte nichts, außer dass Paula käme und mich zurückholte.
    Janek? Sagte der Mann. So wie er meinen Namen aussprach, hatte ihn zuletzt nur Wiechek gesprochen. Vertraut klang das, so vertraut. Trotzdem hörte ich: Bürschchen, hörte ich eine andere Stimme hinter der Stani-Stimme, eine schlimme, gefährliche Stimme: Bürschchen, hab ich dich. Sie strich mir über den Körper, die Arme hinunter, die Beine hinauf, packte mich am Kragen, schnürte mir die Kehle zu, stellte mir die Haare an Armen und Beinen auf.
    Hinter geschlossenen Lidern wandern zarte Punkte wie Staubkörnchen über einen orangefarbenen Hintergrund. Schlieren über dem Augapfel, die kommen und gehen, lösen sich auf.
    Janek, du musst etwas essen. Sagte die Stimme. Kartoffelsuppe, möchtest du? Das R rollte wie ein Rohrstock.
    Es ist dein Onkel. Sagte ich zu mir.
    Er soll raus aus dem Zimmer. Dachte ich.
    Die Suppe roch gut, Liebstöckel war darin, so roch Muttersuppe. So roch ein Köder. Der sollte mich in Ruhe lassen. Ich wollte allein sein, wollte an Paula denken. Und hatte Angst vor dem Sterben. Ich hörte ihn einen Schritt machen, ich spürte seinen Blick auf dem Bett haften, ich spürte Blicke wie Schüsse, wie Stiche in empfindliche Körperstellen. Wenn ich die Augen öffnete, könnte ich Schlimmes sehen, der schwitzende Franke, wie der wiedergekommen war. Ich rollte mich auf den Bauch. Ich hörte ihn atmen, ruhig, gleichmäßig, ich hastete durch meine Gedanken: Das ist dein Onkel!
    Warum bist du dir eigentlich so sicher?
    Weil er alles von Mutter weiß. Das ist ein Beweis.
    Wenn er sich tarnt! Wenn er auch einer von denen ist? Warum rollte er das R? Warum muss ich in der Mansarde schlafen?
    Das ist ein Verlies, ein Gefängnis; wenn er die Tür abschließt, kann ich nur noch hinabspringen auf die Steinterrasse. Das Haus ist hoch.
    Ich führte Gespräche mit dem Misstrauen.
    Junge, du musst essen! Sagte der Mann, der mein Onkel sein wollte.
    Ich bin nicht hungrig, sagte ich.
    Dabei quälte der Hunger mich so

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