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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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ihr. Das ist wichtig. Sie ist deine Tochter. Je länger du das vor dir herschiebst, desto mühsamer wird es. Er stockt. Er wartet. Wenn er die Bilder vor seinem inneren Auge sieht, kann er es erzählen. Sie sind jetzt ganz nah, als hätten sie gewartet, abgerufen zu werden, als hätten sie Schlange gestanden.
    Bierach. Der Tag auf dem Markt. Als er noch einmal hinfahren wollte. Nicht zu nahe an Aichhardt heran, aber in die Nähe. Er hat gar nicht ganz nahe heranfahren müssen.
    Paula, setzt er noch einmal an, unterbricht sich. Ich, sagt er. Ich war doch als Zwangsarbeiter in Aichhardt.
    Ja. Sagt die kleine Schwester. Ich weiß.
    Bierach ist die nächste Stadt.
    Ja.
    Ich war siebenunddreißig Jahre alt vielleicht, da wollte ich noch einmal dorthin fahren, wollte sehen, was ich noch erkenne in der Umgebung, die Landschaft, die Häuser, ich wollte mir ein Bild machen. Ich empfand nichts mehr, wenn ich an Paula dachte, Dankbarkeit, wenn ich mich an Leo erinnerte und das Dorf, Schuld noch immer bei jedem Gedanken an Wiechek. Ich war Architekt, lebte seit dem Studium, das mir mein Onkel finanziert hat, hier in der Stadt, nicht weit entfernt von Onkel Stani, den nichts wegbrachte vom Land, auch nicht als er alt war. Agota hatte ich gerade kennengelernt, ein wirklich neues Leben begann, sie war meine erste Liebe seit Paula, so lange hat es gedauert, bis ich mehr konnte, als nur mit einer Frau zu schlafen. Das hab ich Ihnen längst alles erzählt, sagt er.
    Markttag war in Bierach, sagt er. Die Martinskirche steht direkt am Marktplatz, ich war nie dort gewesen, wir durften das Dorf nicht verlassen, erst später habe ich Bilder gesehen, von der Stadt. Bierach! Ich wollte mich annähern an Aichhardt. Zuerst die Stadt anschauen, dann hinausfahren, die paar Kilometer.
    Er spürt, wie seine Hand die wegwerfende Bewegung macht, mit der er auch damals losgefahren war, ein Katzensprung war das von Bierach nach Aichhardt, und doch kam ihm ein Besuch in der Stadt ungefährlich vor. Er sieht sich wieder aus der Kirche herauskommen, hinter dem Marktstand hervortreten, an dem Bratwürste verkauft wurden, sieht sich die Bratwurst von der hohen Theke wegnehmen, sein Frühstück, und seine Bewegung zur vollen Straße hin.
    Er sagt: Ich kaufte eine Bratwurst an einem Marktstand. Ich drehte mich aus dem Bratwurstdampf heraus, und noch beim Umwenden sah ich meine Augen, ich schaute in meine Augen! Ich sah hin, ich sah weg. Und sah beim Wegschauen in ein Gesicht, das mir vollkommen vertraut war. Paula. Ich wollte ihren Namen aussprechen, Paula sagen, weil er aufblitzte in mir, wie ein aus dem Wasser springender Fisch, aber ihr Blick wurde augenblicklich so hart, so düster, so dunkel, dass ich schlucken musste, dass ich sie nicht länger anschauen konnte. Und dabei blickte ich wieder in Augen, die meine waren. Wie meine. Meine. Ein Mädchengesicht, sagt er. Ein sehr schönes Mädchengesicht, Lippen, schmal, nicht dünn, Paulas Lippen, nur mit einer Wölbung nach außen, oben und unten, ein Kussmund, ein wenig. Ich konnte keinen Bissen schlucken. Ich konnte nichts sagen, nur auf dieses Mädchen schauen, das ihren Blick auf den Wurstverkäufer gerichtet hatte, und bestellte: Eine nackete Bratwurst, bitte. Auf Schwäbisch.
    Ich habe keine Ahnung, was in mir vorging. Ich sah etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Ich war zu langsam. Wörter gab es nicht. Nur die Stimmen des Marktes, der Verkäufer und Besucher, und laut darüber das Gackern der Hühner in den niedrigen Gattern, der Gänse, der kleinen piepsenden Enten, der Stubenküken, des ganzen geschwätzigen Geflügeltiers, und unsere stummen Körper dazwischen, zwei sprachlose erschrockene Zweibeiner. Ich sah, wie das Mädchen die Wurst in der Semmel in die Hand nahm, blies, blies, und hineinbiss, als sei nichts, ich sah Paula, wie sie das Mädchen energisch beim Arm nahm, sich umdrehte, wortlos, und wegging. Das sah ich. Und blieb stumm. Ich tat nichts, rannte nicht, biss nicht in die Wurst, biss dann wahrscheinlich doch hinein, aß, dachte nach, grübelte, als sei die Sache schwer zu verstehen. Er lacht auf. Ich weiß nicht, ob ich Wut spürte, später ja, aber in diesem Augenblick nicht, ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um mich von der Stelle zu bewegen, vielleicht bewegte ich mich auch sofort irgendwohin. Nur dass sich irgendwann ein Spalt auftat in meinem Gehirn, durch den die Wirklichkeit hineinrieselte wie feiner Sand während eines Sturms, der noch anhielt: Das war Paula.

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