Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
und ihr Haar hüpfte mit. Nicht ihr Gesicht. Und er, Janek Bili ń ski, stand auf der anderen Straßenseite, stand und starrte, sah den wippenden Pferdeschwanz des Mädchens, das er damals kurzhaarig und etwas toupiert gesehen hatte mit Paula in der Stadt. Sah diese junge Frau in den hellroten Pumps, das Leuchten in ihren Augen, und das Strahlen im Gesicht des jungen Mannes in Anzug und Krawatte: wusste nicht, dass der, der da stand, um sie abzuholen, bereits ihr Mann war. Hatte Eifersucht gespürt, wie es sich nur für einen verschmähten Liebhaber gehörte. Auch wenn sein Anliegen ein anderes gewesen war. Auch wenn er nicht gewusst hatte, dort auf der anderen Straßenseite stehend und immer wieder verschämt in seine Geldbörse schauend, als suchte er Münzen für die Parkuhr, auch wenn er da nicht ahnen konnte, dass er nie wieder den Mut fassen würde, sich in ihre Nähe zu begeben und sie anzusprechen.
Er will nicht einschlafen. Er nimmt den Wasserbecher und schüttet sich ein paar Tropfen auf die Hand, reibt damit über die Augen, über die Schläfen, aber seine Augenlider fallen schon wieder zu. Wo bleibt die kleine Schwester? Er lässt den Kopf ins Kissen fallen. Er will sie sehen. Noch ein Mal!
Der erfüllte Mensch grübelt nicht. Merkwürdiger Satz. Sein eigener? Wie viel Zeit in seinem Leben hat er an Hannah gedacht, und wie viel Zeit mit keinem Gedanken? Ist die Zeit, die man an eine Person denkt, ein Maßstab für die Intensität der Beziehung zu ihr? Ja.
Fragebögen könnte er gut erfinden.
Die Augen fallen ihm zu. Die Uhr tickt laut. Jede Minute dieses metallene Tock. Dann ist es wieder still und er zählt leise mit. Kommt bis neunundvierzig, als der vorrückende Zeiger ihm zuvorkommt, kommt das nächste Mal bis dreiundfünfzig, strengt sich sehr an, schneller zu werden, und kommt bis vierundfünfzig, spürt, wie er die Zahlen verliert, als fielen sie durch ein löchriges Netz auf einen durchlässigen Untergrund, versucht sie immer noch festzuhalten, sieht das Fließband, legt darauf die Zahlen und sieht den Mantel kommen. Sieht den Mantel, und was noch? Sieht Schuhe auf dem Fließband fahren, ohne Füße, sieht Kleidungsstücke wie Knäuel darauf, und Tiergeräusche hört er. Es dampft in der Fabrik, nebliges Licht ist das, ein Gewitter ist das, ein Feuer, alles wie eingeräuchert, aber er riecht nichts. Hier kann er niemanden finden. Er geht vorsichtig, sieht Maschinen durch diesige Luft hindurch, sie sind in Bewegung. Seine eigenen Geräusche hört er nicht, nicht seine Schuhe, nicht sein Husten, warum hört er das alles nicht? Er schaltet sein Handy ein, das ist so groß wie ein Regenschirm, und es sieht aus wie ein Regenschirm, aber das ist sein Handy. Bilder blinken auf dem Schirm. Leuchtschrift. Er kann nichts erkennen. Er tippt darauf. Er sagt etwas, was sagt er? Er hört seine eigene Stimme nicht. Er spannt den Regenschirm auf, die Tierstimmen werden lauter, aber da ist kein Mensch in der Halle, niemand zu sehen. Er ruft. Ohne Laut. Die Luft schluckt seine Stimme, die dichte schwere Luft.
Hannah, ruft er. Das weiß er doch. Er sieht seinen Mund vor sich, sein Mund formt »Hannah«! Offen, geschlossen, offen.
Aber nichts ist zu hören außer Tierstimmen, das weiß er sicher, dass das Tierstimmen sind. Das Fließband rast voran, er sitzt auf dem Fließband und vorne, ganz weit vorne wird es gefährlich. Der Abgrund kommt, wenn das Fließband so beschleunigt, dann fällt er vom Band, wie diese Gegenstände vom Band fallen, dort vorne, wo das Licht ist. Er sieht das Licht gut, hellere Luft, klare Luft, es geht ins Freie, das ist das Nichts, er will nicht ins Freie, er will aufstehen! Er will herunter von dieser Straße! Die Geschwindigkeit nimmt zu, er kann sich nicht loslassen und nicht richtig festhalten. Die Luft wird kälter, das helle graue Loch: Dort ist draußen, es kommt näher, vor ihm liegt nur noch dieser Fuchsschwanz, er bewegt sich, er kommt auf ihn zu, er fällt: Hannah! Er hört seine krächzende Stimme beim Aufwachen, oder weckt ihn sein Rufen?
Niemand ist im Zimmer. Draußen dämmert es bereits, und wenn er jetzt klingelt, kommt Hannah. Er weiß es. Er wartet, seine Hand sucht nach der Klingel, da ist aber keine Klingel, da ist nichts. Öffne die Augen, denkt er, oder sagt er das, er sagt es, er sucht die Klingel, er greift in die Luft, in das glatte Laken.
Herr Bili ń ski! Herr Bili ń ski! Ich bin da.
Eine Hand liegt auf seinem Arm. Es kommt ihm vor, als müsse er die
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