Was im Dunkeln liegt
möchte ich gewiss nicht. Sobald ich das Haus erreicht habe, kann ich von der Straße abbiegen und auf dem öffentlichen Fußweg weitergehen, der mich durch den Wald hindurch zum Parkplatz zurückbringen wird. Als bei dem bloßen Gedanken daran ein lautloser Schrei in mir aufsteigt, unterdrücke ich ihn in der beruhigenden Gewissheit, dass ich nicht verpflichtet bin, diesen Plan einzuhalten. Wenn ich will, kann ich genauso gut über die Straße zurückgehen. Ich riskiere keinen Gesichtsverlust. Niemand ist da, der mich verspotten könnte: Los, weiter, Katy – du hast doch nicht etwa Angst, oder?
Die Straße scheint im Lauf der Zeit steiler geworden zu sein. Es gibt auch wesentlich mehr Verkehr, und ich atme die Auspuffgase ein, als ich zielstrebig den Hügel erklimme, dessen umliegende Landschaft durch hohe Hecken verdeckt ist. Im letzten Abschnitt des Anstiegs kommt das Hausdach in Sicht – zunächst nur der Dachfirst und
die Schornsteinaufsätze, dann immer mehr vom Dach, je näher ich komme. Schließlich das Haus selbst – näher an der Straße als in meiner Erinnerung, viel exponierter, da das hohe Gebüsch und die Rosensträucher, die es zuvor von der Straße abgeschirmt hatten, zurückgeschnitten oder abgeholzt worden sind. Es ist tatsächlich kaum zu glauben, dass dies wirklich dasselbe Haus sein soll. Die einst bräunlich-grauen Rauputzmauern sind leuchtend weiß verputzt worden, während die Fenster mit ihren altmodischen metallenen Rahmen, deren schmutzige Scheiben wir nie sauber gemacht haben, durch moderne Doppelglasscheiben ersetzt worden sind. Es ist immer noch ein hässliches Haus, aber wenigstens nicht mehr einsam und verwahrlost.
Es scheint niemand daheim zu sein, und so verlangsame ich mein Tempo zu einem Bummelschritt, um mir alles genau anzusehen. Der Vordergarten ist voller Narzissen, und auf einem langen Grasstreifen neben dem Eingangstor liegt vergessen ein Kinderball. Demnach wohnt hier eine Familie.
Der öffentliche Fußweg, von einem schicken hölzernen Wegweiser markiert, verläuft noch immer am südöstlichen Rand des Gartens entlang. Der Pfad wirkt zertrampelt, aber nicht besonders matschig. Das Gestrüpp vergangener Zeiten ist durch eine ordentliche Dornenhecke ersetzt worden, die hier gut gedeiht und beinahe mannshoch gewachsen ist. In ein, zwei Jahren wird die Hecke das Haus perfekt abschirmen, aber noch kann ich mühelos das Fenster erkennen, das einst zu meinem Zimmer gehörte.
Die Südostseite des Hauses ist von der Straße aus nicht einsehbar, deshalb ist es nun seit fünfunddreißig Jahren das erste Mal, dass ich dieses Fenster betrachte. Ich bin
mir vage bewusst, dass ich stehen geblieben bin. Ich stehe da und starre zu dem Fenster hinüber, als erwartete ich, jemanden dort zu sehen. Ich mahne mich, dass ich womöglich von einem für mich unsichtbaren Hausbewohner, der sich fragt, was ich hier tue und warum ich sein Haus anstarre, beobachtet werde. Vielleicht greift er gerade zum Telefon, um den Nachbarschaftswachdienst über die Anwesenheit einer merkwürdigen Frau mittleren Alters zu informieren, die mit einem komischen Ausdruck in den Augen auf dem Fußweg herumlungert.
Dennoch – ich kann nicht weitergehen. Sie sind nicht real für mich, diese neuen Besitzer. Ich kann sie mir nicht vorstellen. Die Person, die ich hinter diesem Fenster sehe, ist kein Jugendlicher des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ausgerüstet mit Laptop und Playstation. Nein, es ist ein junger Mann, groß und schlank, mit dunklem welligem Haar, das auf die Schultern seiner Lederjacke fällt, die an den Ellbogen Knitterfalten hat. Er bewegt sich mit selbstbewusster Leichtigkeit durch das Zimmer und summt ein vertrautes Lied, und als er sich umdreht, leuchtet Wiedererkennen in seinen Zügen auf, und seine dunklen Augen sind voller Übermut und Liebe.
Ich merke, dass ich weine. Kein süßes, romantisches Weinen, das junge Männer dazu veranlasst, einem beschützend den Arm um die Schulter zu legen. Es sind große, unförmige Tränen, die lächerliche Tropfen an meinem ansatzweisen Doppelkinn bilden – für mein Alter so peinlich und unangemessen, wie auf dem Tisch zu tanzen oder in der Öffentlichkeit zu knutschen.
Beinahe ohne nachzudenken, eile ich den Pfad entlang. Ich kann genug von Haus und Garten erkennen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass dort nichts Unerwünschtes
vonstattengeht. Niemand hat das wichtigste Element unserer Gartengestaltung zerstört. Das Geheimnis
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