Was im Leben zählt
gedacht, wenn ich auf der sicheren Seite bleibe, könnte ich uns vor der Zerstörung bewahren, und das, obwohl die Zerstörung jederzeit durch die Ritzen kriechen kann, durch die Poren in die Haut dringen und in den Blutkreislauf sickern?
Völlig in die Bewerbungen versunken, sitze ich da und vergesse die Zeit. Jede einzelne Mappe steckt randvoll mit Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft. Mein verspannter Nacken fleht mich um eine Pause an, aber ich möchte fertig werden mit diesen hochtrabenden Erklärungen, dass es auch ein Leben außerhalb von Westlake gibt. Nicht, weil ich nicht daran glaube. Ganz im Gegenteil. Das ist mir inzwischen klar. Nein, weil diese Mappen mir den Weg aufzeigen, den ich ignoriert habe, den Weg, den ich nicht eingeschlagen habe, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken.
«Ich habe Licht bei dir gesehen», sagt Eli. Er hat seit der Katastrophe dreimal angerufen, aber ich war zu beschäftigt, um nur ein einziges Mal zurückzurufen.
«Was tust du denn hier?», frage ich mit strahlendem Lächeln, weil ich trotz und wegen allem froh bin, ihn zu sehen. Mein Nacken entspannt sich, meine Schultern sinken wie von selbst herab, und die Spannung, die sich in mir aufgebaut hat, darf endlich abfließen. Ich winke ihn herein. «Hast du nicht mitgekriegt, dass heute schneefrei ist?»
«Ach was, Schneeglätte wird doch völlig überbewertet», sagt er, winkt ab und lässt sich auf die Couch fallen. «Nein, ich wollte noch ein paar Bilder durchsehen. Mit der Ausstattung hier kann mein Zeug zu Hause nicht mithalten.» Er zögert. «Wie geht es deiner Schwester?»
Ich bringe ihn auf den neuesten Stand, und er neigt den Kopf und hört mir zu. Dabei sieht er mich so intensiv an, dass ich mir verlegen die Haare hinters Ohr schiebe und wegsehe.
«Und wie lief es noch mit deinem Besuch, ähm, wer war sie gleich wieder?», frage ich, dabei weiß ich nicht mal, wieso eigentlich, jetzt, wo Tyler zurück ist, und gleichzeitig weiß ich es doch ganz genau.
«Du kannst ruhig fragen, weißt du?», antwortet er lachend. «Ja, sie ist meine Exfreundin. Ich glaube, ich habe dir schon mal von ihr erzählt – das Kenia-Mädel – , und ja, sie ist wieder weg. Wir hatten nur noch ein paar Dinge zu klären.» Er nickt. «Und jetzt sind sie geklärt.»
«Aha», sage ich. Die Luft zwischen uns ist fast greifbar. «Du, kann ich dich noch was fragen?»
«Alles.»
«Dein Freund damals, der mit der Lawine. Was ist mit ihm passiert?»
«Er hat es nicht geschafft.» Elis Kinn sinkt ganz leicht in Richtung Brust, ein verstohlenes Zeichen dafür, dass wir alle unser Päckchen zu tragen haben, an Anker gekettet sind, die uns jederzeit in die Tiefe zerren können.
«Das tut mir leid», sage ich. «Bist du jemals wieder hochgegangen? Ich meine, bist du danach je wieder Klettern gewesen?»
«Ja.» Er lässt sich gegen die Rückenlehne sinken, fast erleichtert, und starrt die Halogenleuchten an der Decke an. «Ich bin noch einmal raufgegangen, ein paar Monate nachdem es passiert ist. Aber nur einmal, und wahrscheinlich mache ich es auch nie wieder.»
«Wieso?», wage ich mich vor. Eine schlichte Frage, die eine komplizierte Antwort herausfordert.
«Weil ich mich nicht vom Berg bezwingen lassen wollte», sagt er völlig unkompliziert. «Ich wollte nicht, dass er siegt. Das Leben besiegt einen oft genug. Aber in diesem Fall konnte ich das nicht zulassen. Es ging nicht. Der Berg hatte schon genug genommen.»
Ich schiebe den Stuhl zurück und trete zu ihm. Ich lasse mich neben ihn auf mein verblasstes lila Sofa sinken und lege den Kopf an seine Brust. Ich kann das Gleichmaß seines Herzschlags hören wie das Metronom auf dem alten Klavier meiner Mutter. Während der Minutenzeiger langsam die Uhr umrundet, sitzen wir da, zwischen uns ein vertrautes, leichtes Schweigen, zwei Verwundete, von denen nur einer bereits die Kunst erlernt hat, die Wunden wieder zu nähen.
Später, nachdem Eli gegangen ist und ich tatsächlich ein bisschen auf meiner Couch schlafen konnte, streife ich durch die verlassenen Korridore der Schule, über die ich mich bis jetzt voll und ganz identifiziert habe. Ich werfe einen Blick in den Musiksaal, der Darcy einst als Zuflucht diente, und flüstere ein inbrünstiges Gebet, dass sie eines Tages stark genug sein wird, wieder hierherzukommen. Nein, nicht hierher, natürlich nicht, sondern zur Musik, ihrem Heilmittel. Ich habe ein Leben lang versucht, sie
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