Was im Leben zählt
festzuhalten, wollte immer nur, dass sie bleibt, doch mir ist klargeworden, dass nicht alle so leicht Wurzeln schlagen. Oder dazu geeignet sind. Ja, bitte lass sie einen Weg zurückfinden, wo auch immer das sein mag.
Ich mache einen Abstecher auf die Mädchentoilette, wo ich auf das Stäbchen gepinkelt habe und beim Anblick der einsamen roten Linie davon überzeugt gewesen bin, alles verloren zu haben; jegliche Verbindung zu meinem Mann, jegliche Hoffnung auf die Zukunft. Vor dem Kunstsaal bleibe ich unschlüssig stehen. Er ist zwar abgeschlossen, aber ich habe ja jetzt einen Schlüssel. Ich bleibe trotzdem vor der Tür stehen und frage mich, wie es kam, dass ich all das einfach aufgegeben habe – meine Leidenschaft für die Fotografie, meine Liebe zu diesen ganz besonderen, eingefangenen Augenblicken –, und dann weiß ich natürlich wieder genau, weshalb: für Darcy, für meine Familie, für meinen Vater. Ich habe mich für sie geopfert. Vermutlich müssen wir alle irgendwann einmal Opfer bringen, aber wir sollten uns davor hüten, diese Rolle für immer zu übernehmen.
Diesen Freitag werden ein paar künftige Absolventen dieser Schule, und wenn auch nur ein kleiner Prozentsatz, mit ihrer Zunge über die Gummierung eines Briefumschlags lecken, die passende Briefmarke aufkleben und ihren Traum hinaus in die Welt schicken, in der Hoffnung, dass jemand ihn wertschätzt. Sie haben ihre Träume nicht geopfert; sie haben sich selbst nicht geopfert. Sie haben alle Probleme, vielleicht nicht dieselben wie ich, aber trotzdem Probleme. Vielleicht haben ihre Eltern sich getrennt, vielleicht gibt es bei ihnen zu Hause nur ab und zu warmes Wasser, vielleicht versuchen ihre Väter, endlich von den Drogen wegzukommen. Vielleicht müssen ihre Großeltern als Ersatzeltern herhalten, vielleicht sind ihre Jeans vom vielen Weiterreichen in der Familie schon ganz fadenscheinig. Vielleicht ist aber auch ihr bester Freund oben auf dem eisigen Berg unter einer Mauer aus Schnee gestorben. Doch sie klettern trotzdem wieder hinauf. Sie lassen sich von dem Berg nicht bezwingen. Im Gegensatz zu mir. Das ist mir inzwischen klargeworden. Ich habe mich bezwingen lassen. Ich habe mein Leben damit verbracht, diese mutigeren Seelen in die Welt hinauszuscheuchen und dabei Schutz in ihrem Schatten gesucht. Das ist kein Leben. Das ist Asyl.
Auf dem Weg zum Parkplatz bleibe ich kurz vor der Trophäenvitrine stehen, vor dem Zeitungsausschnitt über Tylers Meisterschaftsspiel und dem Mannschaftsfoto – er, der Star-Shortstop. Auf dem Zeitungsfoto entdecke ich mich selbst: Da bin ich, in meinem Cheerleader-Kostüm, knackig, strahlend, voll unentfaltetem Potenzial. Ich betrachte mein siebzehnjähriges Ich und frage mich, was ich dieser Tilly wohl zu sagen hätte, nicht nur als ich selbst, sondern als Beratungslehrerin und als Frau mit etwas mehr Einblick in die Zukunft, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Ich glaube, ich würde ihr sagen, denke ich, während ich im Schulflur stehe und mir Tränen übers Gesicht laufen, dass das Leben grenzenlos ist, dass Angst sich besiegen lässt und dass jemand, der sich immer im Schatten versteckt, auch nicht gesehen wird. Dass es zwar bewundernswert sein mag, den Großteil seiner Zeit damit zu verbringen, die Probleme anderer Menschen zu lösen; aber nur wenn es nicht geschieht, um die Lösung der eigenen zu vermeiden. Du kannst sämtliche Löcher in deinem Gummiboot flicken, aber wenn du nie gelernt hast, in schwerer See zu navigieren, wirst du vielleicht trotzdem ertrinken. Ich würde ihr sagen, dass Träume Träume sind, und seien sie auch noch so klein, und sei es nur der Wunsch, Weinbergschnecken in Paris zu probieren, ein zeitloses Foto vom Eiffelturm zu machen oder über die Champs-Élysées zu laufen und die Auslagen viel zu teurer Geschäfte zu bewundern, die laue Pariser Nachtluft auf der Haut, oben die Lichter der Stadt und die Sterne, alles aufgeladen mit Elektrizität, die zum Greifen ist. Und sei es der Wunsch, denke ich beim Anblick von Tylers breitem, jugendlichem Grinsen, eine College-Mannschaft zum Sieg zu führen, weil man selbst nie wieder den harten Aufprall des Schlägers und den Jubel des Publikums und den trockenen Staub auf der Wange spüren wird, während man auf die Homebase zuschlittert.
Alles Mögliche würde ich ihr sagen, denke ich und kehre der Vitrine endgültig den Rücken. Vor allem dass es nie zu spät ist. Dass die Jahre lang sind und die Straße gewunden ist und
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