Was im Leben zählt
bestellt hat, während ich mit der Tradition gebrochen und mich für Lachs entschieden habe.
«Wir sind mal beste Freundinnen gewesen, weißt du noch?»
«Vage», sagt er und kneift die Augen zusammen. «Ich erinnere mich vage daran.»
Er verstummt, und mir geht es genauso. Wir sind den ungezwungenen Smalltalk nicht mehr gewöhnt, aus dem in einer Ehe Substanzielleres wird. Wir haben in der vergangenen Woche auf der Basis der Krise eine Partnerschaft simuliert – Wie ist Darcys Genesungsprozess? Wie geht es Ashley ? –, und jetzt, ohne rote Blinklichter, ohne Alarmglocken, sitzen wir hier, rutschen unbehaglich hin und her, nippen Wein, den ich nie bestellt hätte, den Tyler aber trotzdem wollte, und haben uns nicht allzu viel zu sagen. Eigentlich gar nichts mehr , denke ich, zwinge den Cabernet hinunter und spüre dem Brennen in meiner Kehle nach.
«Wie ist dein Fisch?», will Tyler wissen, als das Essen serviert wird.
«Nicht so gut, wie ich gedacht habe», sagte ich. «Ich wollte einfach mal was Neues ausprobieren. Aber ich glaube nicht, dass ich ihn noch mal bestellen würde.»
«Tja», sagt er, schneidet das Hühnchen und steckt sich einen Bissen in den Mund. «Du hast es wenigstens probiert.»
Tja , denke ich, stimmt.
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Achtundzwanzig
I n der folgenden Woche kommt der Schnee zurück, in Flocken, so groß wie Tischtennisbälle; der Winter verkündet seine frühe und unerbittliche Ankunft. Tyler macht eine Schicht im Laden, um sich ein bisschen extra Weihnachtsgeld zu verdienen, und obwohl die Pforten der Westlake High wegen Straßenglätte geschlossen bleiben, setzt er mich Dienstagmorgen vor der Schule ab. Freitag sind die College-Bewerbungen endgültig fällig, und mir bleibt keine Wahl, als mich den Papierbergen auf meinem Schreibtisch zu stellen. Die Flure sind verlassen, die Lichter gedimmt. Ich begrüße Billy, den Pförtner. Er hat von Darcy gehört und möchte wissen, wie es ihr geht. Ein bisschen besser, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Das stimmt und stimmt gleichzeitig nicht. Sie ist auf die Reha-Station verlegt worden, und langsam bekommt sie wieder Gefühl in den Fingern, kein geringer Sieg. Aber ihr werden heute zwei Zehen abgenommen.
«Sie können nicht mehr gerettet werden», hat der Arzt uns gestern eröffnet, obwohl letzte Woche noch Hoffnung bestanden hatte. Dante war auch dabei. Er hat ihr bei Walmart einen CD-Spieler besorgt, damit sie sich die Demo-CD mit den neuen Songs anhören kann. Er hat ihr die Schulter gedrückt und gesagt, zehn Zehen wären sowieso total überbewertet, und wir mussten alle grinsen. Was blieb uns auch anderes übrig? Darcy wird ab jetzt immer leicht humpeln, sich in Sandalen unwohl fühlen, und jedes Mal, wenn ich ihre verstümmelten Füße sehe, werden heiße Schuldgefühle durch mich hindurchjagen, weil ich nicht viel eher bei ihr war, weil ich meinen Egoismus nicht rechtzeitig bezwungen habe, um sie zu retten. Aber ich versuche auch, es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, es als sprichwörtlich wandelnde Mahnung an die Klarheit zu begreifen, daran, wie trübe die Dinge früher waren und wie weit ich tatsächlich gekommen bin.
CJs Bewerbung für das Wesleyan liegt zuoberst auf dem Stapel, und ich setze mich zittrig an meinen Schreibtisch. Seit wie vielen Nächten habe ich eigentlich nicht mehr geschlafen? , frage ich mich und blättere die Aufsätze und Berichte durch, die CJ, wenn es nach ihr geht, möglichst weit weg von hier bringen werden. Seit Tyler wieder in meinem Bett schläft, hält er mich mit seinem Schnarchen und Herumwälzen und Zähneknirschen vom Schlafen ab. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich allein viel besser schlafe. Wahrscheinlich weil ich nie darüber nachgedacht habe, weil ich mein ganzes Erwachsenenleben lang nie allein geschlafen habe. Es lag immer jemand neben mir, als wäre ein warmer Körper Grund genug, sich sicher zu fühlen. Damals auf dem Volksfest habe ich Ashley überheblich angelächelt und meine Theorie verkündet: Ich habe einen Ehemann und ein wunderbares, geordnetes Leben, und wir versuchen, ein Kind zu bekommen , was sollte ich mir also noch wünschen? Tja, wie sich rausstellte, alles und gar nichts.
Ich lese ein allerletztes Mal CJs Bewerbung, ehe ich mich der nächsten zuwende. Ja, sie ist bereit. Sie wird Westlake den Rücken kehren und wahrscheinlich keinen einzigen zweifelnden Blick zurückwerfen. Wieso habe ich das nie getan? Wieso habe ich immer
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