Was im Leben zählt
ich, das habe ich inzwischen begriffen, vielleicht ist es also keine Überraschung.
Sie weiß, dass ich es weiß; sie hat es in meinem Gesicht gelesen und natürlich in dem Gesicht meines Vaters, als sie mit der traurigen Nachricht vom Tod ihrer Mutter zu uns kam, aber wir haben nicht darüber gesprochen. Bei allem, was geschehen ist, wirkte es fast nebensächlich.
Tyler und ich wohnen der Beerdigung gemeinsam mit Susanna und Luanne bei. Irgendwo am Rand der kleinen Schar Trauergäste sehe ich auch meinen Vater stehen, aber ich mache keinen Versuch, die Brücke zwischen uns wiederaufzubauen. «Selbst meine Opferbereitschaft hat ihre Grenzen», sage ich, als es vorbei ist, im Auto zu Tyler. Er nickt, den Blick auf die Straße geheftet, und ich frage mich, ob er mir zustimmt oder im Geist irgendwelche Tabellenergebnisse abhakt.
Heute ist nicht nur der Tag, an dem wir Ashleys Mutter zu Grabe tragen. Weil das Schicksal offensichtlich mit einem ganz speziellen Humor gesegnet ist, ist heute zu allem Überfluss auch noch unser Hochzeitstag. Tyler hat mich vor zwei Tagen daran erinnert, als er auf einmal lachend ein altes Fotoalbum mit Bildern von unserem Probedinner in der Hand hielt. Halloween war das Motto gewesen. Er als Joe DiMaggio, ich als Marilyn Monroe. Schon komisch, dachte ich, während wir gemeinsam in dem Album mit der brüchigen Plastikfolie und den schon leicht vergilbten Fotos blätterten: Wir haben bereits angefangen, uns zu maskieren, bevor wir überhaupt verheiratet waren.
«Lass uns essen gehen», sagte er, aber es war eher wie eine Frage formuliert. «Äh, um zu feiern?»
«Okay», sagte ich und wischte die Küchenfronten. «Okay, ja, warum nicht.» Es fühlte sich alles so weit weg an. Das Probedinner, der Toast, den mein Vater mit alkoholfreiem Wein ausbrachte, wie sehr ich meine Mutter vermisste, während meine Schwestern mein Brautkleid bügelten und meinen Nackenknoten mit winzigen Seidenrosen schmückten. Nur der Aspekt, die schmerzliche Sehnsucht nach meiner Mutter, dachte ich, während ich den Schwamm über dem Spülbecken ausdrückte, fühlte sich kein bisschen weit weg an.
Nach der Beerdigung duschen wir kurz und ziehen uns um. Dabei vermeiden wir es, einander anzusehen, halbnackt, wie wir sind. Tyler ist zuerst fertig und wartet unten auf der Couch. Ich muss daran denken, wie er mich damals während der High School immer abholte. Ich ging die Treppe hinunter, und er fing plötzlich von innen an zu strahlen. Ich natürlich auch. Aber das gerät bei allem, was geschehen ist, leicht in Vergessenheit.
Heute komme ich die Treppe herunter, und er erhebt sich, und ich versuche, mir einzureden, es sei leicht, dieses Strahlen wiederzugewinnen, als würde man das Blitzlicht einschalten, und pling , alle Schatten sind verschwunden.
Tyler küsst meine Hand. «Du bist wunderschön.»
«Ja?», frage ich und streiche die Falten aus dem dunkelblauen Kleid, das ich seit der letzten Abschlussfeier nicht mehr anhatte. Es ist unmodisch, aber ansonsten war nichts Sauberes im Schrank.
Wir essen, wie in den vergangenen neun Jahren an jedem Hochzeitstag, im Bella Donna, dem Restaurant von CJs Vater. Näher als hier bin ich Italien nie gekommen. Die Tischdecken sind aus Damast, aus den Lautsprechern klingt leise Opernmusik. Darcy wüsste sicher, was. Es duftet nach Fisch und frischer Pasta. Hank Johnson empfängt mich herzlich, hilft mir aus dem Mantel und kneift mir mit beiden Händen zart in die Wangen.
«Vielen Dank für alles, was Sie für sie getan haben», sagt er.
«Das hat sie ganz allein getan.» Ich lächle. «Aber Sie wissen ja, das bedeutet, sie will es am Wesleyan versuchen.»
«Ich weiß.» Er führt uns an unseren Tisch und rückt mir den Stuhl zurecht. «Es bricht mir das Herz, sie gehen zu lassen, aber wenn sie nicht ginge, wäre es genauso.» Er zuckt die Achseln. «So ist das Leben.»
«Ich finde es schön, dass wir hier sind», sagt Tyler, als Hank gegangen ist. «Ich bin froh, dass wir das tun. Feiern, meine ich.»
«Ich auch.» Ich nicke, konzentriere mich auf die Speisekarte und ignoriere das Offensichtliche: Hätte Tyler mich nicht daran erinnert, dann hätte ich unseren Hochzeitstag vergessen, es wäre ein ganz normaler Tag gewesen. Na ja, nicht ganz; ein ganz normaler Tag, an dessen Anfang das Begräbnis der Mutter einer alten Freundin stand.
«Ich wusste gar nicht, dass ihr euch auf einmal so nahesteht, Ashley und du», sagt er, nachdem er, wie üblich, Pollo Cacciatore
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