Was im Leben zählt
worauf ich hinauswill, es ist mehr eine Ahnung. Sie nickt schläfrig. «Was hast du neulich in der Küche damit gemeint – seine Geheimnisse? Das hat sich doch auf den versteckten Schnaps bezogen, oder?»
Sie seufzt, ein langer, erschöpfter, beinahe läuternder Seufzer.
«Tilly», sagt sie. «Ich bin müde. Und ich hab dich lieb. Lass es im Augenblick einfach gut sein, ja?»
«Kann ich nicht», sage ich leise und denke an meinen Vater auf dem Flur, an seine Hände am Fenster von Valeries Zimmer, an das seltsame, stillschweigende Band, das ihn an Ashley und ihre Mutter bindet, an Ashleys Aufforderung an mich, endlich zu begreifen.
«Das ist uralt», murmelt sie, schon fast im Schlaf. «Vor Jahren. Ehe Mom gestorben ist.» Ihre Lippen beben, und sie ist eingeschlafen.
Als ich aufblicke, steht mein Vater starr in der Tür, Angst, Schuldgefühl und Unbehagen verschleiern sein Gesicht. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er näher gekommen ist.
Er räuspert den Frosch aus seinem Hals. «Worum ging es?»
«Sag du es mir.» Aber dann überlege ich es mir anders. «Weißt du was? Nein. Sag es mir nicht. Ich will keine Entschuldigungen hören. Ich will wissen, was Darcy weiß über die Zeit, ehe Mom starb. Was sie über dich und Valerie Simmons weiß.»
Ihm fällt das Kinn herunter und mir auch. Bis eben war mir die Verbindung selbst nicht klar gewesen, aber mein Instinkt hat ohne mein Zutun dafür gesorgt und die Zügel in die Hand genommen, um die vielen Puzzleteilchen meines Lebens zusammenzufügen.
«Es ist, es ist nicht so, wie du denkst», stammelt er.
«Woher willst du denn wissen, was ich denke?» Ich bin aufgestanden, bin sicher auf den Beinen und auch meiner selbst auf einmal sicherer. Vertraue mir. Vertraue dir selbst. Oh ja, das werde ich.
«Ich … ich …» Dieses eine Mal versagen meinem Vater seine ewigen Ausreden den Dienst.
«Wann war das? Wie lange lief das?» Die wilde Wut ist wieder da, der Groll, der Tyler ins Gesicht geschlagen hat, der Groll, der meinem Vater vorgeworfen hat, uns im Stich zu lassen, der Groll, der das Bild gegen den Kamin gedonnert hat. Das waren alles nur Aufwärmübungen.
Natürlich; ich weiß, wann es passiert ist: damals, in der sechsten Klasse; Ashley hat es gemerkt und hat mir eine Spur aus riesigen Brotkrumen gelegt, damit ich es auch ja bemerke, damit ich an ihrer Seite stehe und die grausame Last ihrer Entdeckung mit ihr trage, die Ungeheuerlichkeit, dass unsere Eltern nicht nur ihre Ehepartner, sondern ihre ganze Familie betrogen. Stattdessen habe ich die Brotkrumen achtlos beiseitegeschoben, bin barfuß durchs grüne Gras gehopst, fröhlich, sorgenfrei und völlig ahnungslos. Kein Wunder, dass sie mich gehasst hat. Ich hätte mich auch gehasst.
«Nicht lange», sagt er zögernd, straft sich selbst damit Lügen, gesteht seine Schuld. «Es war ein Fehler.» Seine ausgestreckten Hände flehen mich an, ihn nicht zu verurteilen.
«Und Darcy wusste es? Darcy wusste es?» Meine Stimme ist zorniges Flüstern. Ich möchte sie nicht aufwecken, aber ihn würde ich am liebsten schütteln und erwürgen oder ihn hier, mitten auf der Intensivstation, mit einem Faustschlag niederstrecken.
Seine Schultern fangen an zu beben, dann der Oberkörper, und dann brechen sich all seine angestauten Seelenqualen endlich Bahn. Es interessiert mich nicht. Es ist mir scheißegal. Er steht zitternd und heulend vor mir, und ich schwöre mir, das war’s! Ich werde ihn nie wieder entschuldigen, keine einzige Sekunde meines Lebens mehr, ich werde ihn nicht beschützen, ich werde ihm keinen Rat mehr geben, und wenn er heute nach Hause fährt, zwei Liter Wodka in sich reinkippt und an seiner eigenen Kotze erstickt, dann ist es mir auch egal.
Er will etwas sagen, doch heftige Schluchzer ersticken die Worte in seiner Kehle. Und dann, als es nicht mehr schlimmer kommen kann, taucht auf einmal Ashley hinter ihm auf, die Augen rot verquollen, und sagt: «Sie ist gestorben.»
Die nächste verlassene Tochter, die der Welt allein entgegentreten muss.
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Siebenundzwanzig
V alerie Simmons wird auf dem gleichen Friedhof beigesetzt wie meine Mutter, an einem stillen Novembertag, der Himmel bleigrau, die Luft beißend kalt. Der Schnee ist nicht geschmolzen und knirscht unter unseren Füßen, während wir langsam zum Grab gehen. Ashley hält sich besser, als ich dachte, vielleicht auch einfach nur besser als ich damals bei der Beerdigung meiner Mutter. Doch Ashley ist stärker als
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