Was im Leben zählt
lässt, Tür und Tor, mit einer bitteren Mischung aus Wehmut und Hoffnung auf eine neue Chance. Die Beratungslehrerin in mir hält ihn für sträflich naiv, während die unverwüstliche Optimistin ihn für seine unerschütterliche Romantik bewundert.
«Und? Wie läuft’s in L.A.?», frage ich.
«Gut.»
«Ist der Plattenvertrag schon ein bisschen nähergerückt?», frage ich so sanft wie möglich, weil Darcys Temperament an diesem Punkt der Unterhaltung normalerweise hochgeht wie ein Flammenwerfer.
Seufzend wirft sie mir einen Seitenblick zu. «Bitte, Tilly. Ich bin müde. Können wir das Thema bitte verschieben, aus Respekt für Mum? Geht das?»
Ich nicke und lächle meiner Schwester zu, die mit ihren dreiundzwanzig Jahren noch immer so herzzerreißend kindlich ist, noch immer so viel ans Licht zu holen hat. Sie erwidert mein Lächeln, auch wenn ihre Augen vor Traurigkeit fast überlaufen, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht das Lenkrad loszulassen und sie so fest in den Arm zu nehmen, dass ich sie sicher zerquetscht hätte.
«Hast du Lulu erreicht? Kommt sie auch?» Ich setze den Blinker, um rechts in die lange Allee abzubiegen, die uns zu unserer Mutter führt. Die Sonne schickt uns ein letztes, gleißendes Leuchten, ehe sie sich zur Ruhe begibt, und wir heben gleichzeitig den rechten Arm wie zwei Synchronschwimmerinnen, um die Sonnenblenden herunterzuklappen.
«Sie war vorhin schon da», sagt Darcy ohne Groll. «Sie hat Spätdienst.»
«Und hast du dich bei Dad gemeldet?» Ich halte die Luft an.
«Er weiß nicht, dass ich da bin.»
Ich biege in den Parkplatz ein und stelle den Motor ab.
«Darcy.» Ich sehe ihr fest in die grauen Augen und hoffe, dass ich nicht bevormundend klinge. «Du hättest ihn anrufen sollen.»
«Hätte, sollte, müsste, könnte», sagt sie, macht die Autotür auf und greift nach dem leicht welken Blumenstrauß. «Willkommen im Leben. Und jetzt los.»
Darcy geht voraus, kreuz und quer durch das Labyrinth aus Grabsteinen. Die Dunkelheit senkt sich herab, und der stets unsichtbare Friedhofswärter hat die etwas zu grellen Laternen eingeschaltet, die den Friedhof fast in künstliches Tageslicht tauchen. Der Schein der Lampen bricht sich an den Grabsteinen und traurigen Mahnungen der Tragödie, die uns allen unausweichlich bevorsteht. Schweigend gehen wir hintereinander über den verschlungenen Pfad, eine alte Gewohnheit aus Darcys Kindheit, als sie noch an Gespenster glaubte und Luanne und mich flüsternd zum Schweigen brachte, damit wir die Geister nicht störten. Manchmal riecht es hier nach frischgemähtem Gras oder Regen, aber heute liegt der Geruch nach Mulch, nach frischer Erde in der Luft, Zeichen dafür, dass kürzlich wieder eine Familie einen geliebten Menschen zur letzten Ruhe betten musste.
Ich nähere mich Moms Grabstein. Ein einzelner Strauß Rosen steht gegen den Stein gelehnt. Unbewusst werde ich langsamer, weil mich die altbekannte, so komplizierte Mischung aus Furcht und Respekt überkommt und das Gefühl, dass ich mich nach all den Jahren noch immer nicht an die Grabinschrift gewöhnt habe – MARGARET EVERETT, GELIEBTE MUTTER, EHEFRAU UND LEHRERIN. Stumme, in Granit gehauene Worte, die nicht in der Lage sind, mir auf all die Dinge Antwort zu geben, die ich ihnen in den fünfzehn Jahren anvertraut habe, seit meine Mutter gestorben ist.
«Oh, Mama!» Darcy lässt sich mit gekreuzten Beinen vor den Stein sinken, den Rücken gekrümmt wie ein Fragezeichen, während ich mich im Hintergrund halte und ihnen ihren Augenblick lasse. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erinnert sie mich so sehr an das Kind, das sie mal war, das kleine, achtjährige Mädchen, das Stunden hier saß und unsere Mutter anflehte zurückzukommen, die Augen voller Tränen, von denen ich nicht ahnte, dass sie immer noch kamen.
«Alles Gute zum Geburtstag», flüstert Darcy, den Kopf auf die Brust gesenkt, und ich mache noch einen Schritt zurück, peinlich berührt, weil ich die Geheimnisse gar nicht wissen will, die Darcy gleich dem einzigen Menschen anvertrauen wird, der sie je zu zähmen verstand.
Als sie fertig ist, trete ich vor und gönne auch mir einen Augenblick stiller Andacht mit meiner Mutter. Direkt nach ihrem Tod war ich ständig zu Besuch. Ich fragte sie, wie ich mit meinem Vater fertigwerden soll, der angefangen hatte, sich und seinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben, alleingelassen mit einem Haus voll weiblicher Hormone – und einer Kommunikationsfähigkeit, die man
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