Was im Leben zählt
aus völlig anderen Gründen.
«Wir fahren!», rufe ich noch lauter, in der Hoffnung, den Fernsehlärm zu übertönen. Doch ich bekomme keine Antwort, also schnappe ich mir den Autoschlüssel vom Tischchen am Eingang, ziehe die Haustür hinter mir zu, steige zu Darcy ins Auto, und wir machen uns auf den Weg zu unserer Mutter.
Westlake, 81 000 Einwohner, ist schon immer ein Nest gewesen, eine Stadt, deren schicker Name die eher trostlose Wirklichkeit Lügen straft. Fragt man die Einheimischen, wird einem jeder bestätigen, dass nur ein einziger Glücksfall unsere Stadt vom Wohlstand trennt. Nur eine einzige besonders gute Apfelernte oder eine Fabrikeröffnung, und es würde Manna vom Himmel regnen. So ist es, seit ich denken kann. Die meisten von uns sind nie von hier weggekommen; wir sind zufrieden mit unserem Schicksal, das vielleicht nicht das beste sein mag, aber wir sind trotzdem dankbar dafür. Auf dem Schild am Ortsrand steht zur Begrüßung der Besucher WILLKOMMEN IN WESTLAKE! BLEIBEN SIE DOCH EINE WEILE HIER! Aber keiner tut es. Die meisten befinden sich auf der Durchreise, hetzen auf dem Weg westwärts nach Seattle oder ostwärts nach Boise durch die Stadt, ohne auch nur einen Blick nach links oder rechts zu verschwenden. Keiner von denen bleibt. Nur wir. Wir kleben fest.
Darcy ist eine Ausnahme, in mehrerlei Hinsicht. Zum einen weil sie tatsächlich weggezogen ist. Ich habe sie angefleht hierzubleiben, und ich habe die Mischung aus Bewunderung und Trauer auf dem Gesicht meines Vaters gesehen, als sie ihren Toyota vollgepackt hat und davongefahren ist, sprichwörtlich in den Sonnenuntergang hinein. Aber mit vernünftigen Argumenten war Darcy noch nie beizukommen. Also ließen wir sie ziehen, in der Hoffnung, dass sie findet, wonach sie sucht. Oder dass sie (und vielleicht war das insgeheim unsere größte Hoffnung) zu uns zurückkommen würde.
Zum anderen hatten Darcy, unsere mittlere Schwester Luanne und ich Glück gehabt, falls man unserer Geschichte etwas Positives abgewinnen konnte (was ich zu meinem Ansatz gemacht habe). Der Laden meines Vaters hatte weder unter harten Wintern zu leiden noch unter der Entlassungswelle des Boeing-Werks, die so einige unserer Nachbarn zum Stempeln zwang. Die Leute sehnten sich immer nach einem neuen Fernseher, mochte der vierzehntägliche Gehaltsscheck auch noch so mager sein, und die Anschaffung eines neuen Kühlschranks konnte man schlecht verschieben, wenn der alte mitten im Hochsommer plötzlich stotternd den Geist aufgab. Mein Vater war über viele Jahre – ganz zu Beginn und auch später wieder, als er die Phase der Selbstzerstörung endlich überwunden hatte – ein echter Lebemann. Mitglied im Elks Club, Sponsor einer Little-League-Mannschaft, ein beliebter, geselliger Bär mit zügellosem Lachen und moderat gefülltem Bankkonto, das Darcy ihren Toyota finanzierte und Tyler und mir das freistehende Vierzimmerhaus, das mein Vater uns zur Hochzeit schenkte.
Darcy und ich schlängeln uns durch die Straßen, fahren an Wohnhäusern mit abblätternden Fassaden vorbei, die zunehmend trostloser werden, je weiter wir uns aus meinem Viertel entfernen. Die Veranden sind gesprenkelt mit amerikanischen Flaggen und trocknender Wäsche. Ich versuche, eine Brücke zu meiner schmollenden Schwester zu bauen.
«Wie lange bleibst du?», frage ich und hoffe heimlich, dass die Antwort «Für immer» lautet, hoffe, dass sie ihren unentwegten Freiheitsdrang endlich aufgegeben hat, diese Sehnsucht nach etwas «Größerem als das hier!» . (Ihre Worte, nicht meine.)
«Nur eine Woche», sagt sie und starrt zum Fenster hinaus.
«Wohnst du bei Dante?», will ich wissen.
«M-hm», macht sie. «Er hat ein tolles Klavier. Ich kann die ganze Nacht spielen.» Dante Smiley, ursprünglich Daniel Smiley, hat seinen Namen während einer Gothic-Phase in der neunten Klasse geändert, und der Spitzname ist ihm geblieben, obwohl er inzwischen schon lange als biederer Anwaltsgehilfe in einer Kanzlei im Einkaufszentrum arbeitet. Er spielt ab und zu Schlagzeug für Murphy’s Law, eine bestenfalls mittelmäßige Garagenband, die etwa einmal pro Monat in irgendwelchen Bars in der Stadt auftritt. Darcy hat ihm in ihrem Abschlussjahr auf der High School mit der Ankündigung das Herz gebrochen, im September aufs Berklee College in Boston zu wechseln, ohne auch nur den Hauch der Absicht, ihre zweijährige Beziehung zu ihm weiterzuführen. Jetzt öffnet er ihr, sobald sie sich in der Stadt blicken
Weitere Kostenlose Bücher