Was im Leben zählt
wunderbarer Vater sein, das weiß ich genau; seine Bärenpranken werden dieses Kind voller Liebe umhüllen.
Ich möchte, dass er aufwacht, ich will mich über Darcy auskotzen – darüber, dass sich alles immer nur um sie dreht, dass sie uns anderen gegenüber immer so gnadenlos ist –, und außerdem will ich, dass er mit mir nach oben kommt und für das Gleichgewicht auf der Matratze in unserem Ehebett sorgt.
Ich beuge mich hinunter, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben, ein flüchtiger Moment, alles, was von unserem gemeinsamen Abend übrig ist, als mich ein heftiger Krampf im Fuß überfällt. Der Schmerz durchfährt mich wie ein brennender Pfeil, ehe ich auch nur daran denken kann, mich irgendwo festzuhalten, er explodiert in meinen Schläfen und ist – peng – wieder verschwunden. Ich sehe Sternchen und schlucke würgend die drückend heiße Luft in meiner Kehle.
«Alles klar?»
Tyler sieht zu mir hoch, die Augen halb geöffnet.
Ich atme durch den Mund. «Mir geht’s gut. Ich habe mich nur aufgeregt, weil ich mit Darcy gestritten habe.»
«Was war denn los?» Er seufzt, die Worte sind schleppend, schwer vom Schlaf.
Ich fange an zu erzählen, aber er ist schon wieder weg, zurück in seiner Traumwelt.
Ich werfe drei Aleve ein, ziehe mir das Kleid über den Kopf und falle ins Bett. Beim Surren der Klimaanlage versuche ich, meine Wut auf Darcy und ihre ständig präsente Unreife zu zügeln. Dieser Groll in mir – ach was, Groll! Ich bin regelrecht angepisst – ist neu. Er ist mir fremd, und ich wäre ihn gerne wieder los, aber der Groll klebt an mir fest, fließt als zähe Masse durch meine Adern, hängt wie statisch aufgeladen an meiner Haut. Ich überlege, ob ich Susie anrufen soll, aber sie hat ihr eigenes Päckchen zu tragen, und Luanne hat Nachtdienst. Komm, Tilly, vergiss es einfach. Du weißt doch, dass sie sich nur deshalb so aufgeregt hat, weil heute Moms Geburtstag ist. Im Geiste gehe ich die Liste meiner Hauptbeschwerden durch: Wie oft habe ich Darcy ihr schlechtes Benehmen schon verziehen? Bis jetzt ist mir nicht mal klar gewesen, dass ich so eine Liste überhaupt führe. Doch offensichtlich ist eine Grenze erreicht, und meine überreife Wut, folgere ich, sorgt dafür, dass die Liste erhebliche Länge besitzt.
In meinem Bein zuckt es unruhig, und ich werfe mir ein Kissen über den Kopf, aber der Schlaf verweigert sich hartnäckig. Ich denke über die Prom Night nach, erstelle im Geiste neue To-do-Listen, dann gehe ich meine Liste mit Lieblingskindernamen durch, aber schlafen kann ich immer noch nicht. Die verfluchte «Womit Darcy mich nervt»-Liste ist offensichtlich auf Endloswiederholung geschaltet, und irgendwann setze ich mich auf, schlüpfe in die ausgelatschten Hausschuhe und tappe im Dunkeln zu meiner Kommode hinüber. Ich bücke mich und ziehe mit Mühe die unterste Schublade auf. Sie wehrt sich knarzend. Die Stapel mit Fotos sind im Laufe der Jahre ineinandergerutscht, und was einst präzise chronologisch geordnet war – eingegrenzt von der High School, von der Zeit vor Moms Tod, von unserer Hochzeit –, hat sich zu einem einzigen Ganzen vermischt, der Beweis für das Leben, das ich gelebt habe.
Den Großteil dieser Bilder habe ich selbst gemacht. Nicht alle, aber die meisten. Mit zwölf habe ich die Fotografie für mich entdeckt, im Ferienlager. Wir mussten an allen Freizeitaktivitäten teilnehmen, ob sie uns interessierten oder nicht. Und die Fotografie war für mich definitiv ein nicht – nicht für Silly Tilly, das Mädchen, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe, das Mädchen, das nur scharf darauf war, im Speisesaal mit den Jungs zu flirten, oder an den Tagen, an denen es so heiß war, dass wir fast schmolzen, Arschbomben ins Schwimmbecken zu machen.
Der Betreuer unserer Gruppe gab jedem von uns eine eigene Kamera und schickte uns mit dem Auftrag ins Gelände, einfach drauflos zu knipsen, alles zu fotografieren, was uns vor die Linse kam. Wir trollten uns in den Wald, und ich knipste und knipste und knipste so vor mich hin, weil ich gleichzeitig darüber nachdachte, ob ich nach dem Abendessen Andy Mosley küssen sollte und wie ich dabei die schlimmen Dinge verhindern konnte, die man sich über verhakte Zahnspangen erzählte. Doch dann wies der Betreuer uns an, den Film zurückzuspulen, und in der fast schwarzen Dunkelkammer des Ferienlagers brachte er uns bei, wie wir die flüchtigen Augenblicke in etwas Bleibendes verwandeln konnten, in etwas, das
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