Was im Leben zählt
bestenfalls als verkrüppelt bezeichnen konnte –, und ich erzählte ihr, dass ich alles tat, was in meiner Macht stand, um Darcy vor den Höllenqualen zu bewahren, die in unserem Leben Einzug gehalten hatten. Als Ty und ich anfingen, miteinander zu gehen, nur einen Monat nach ihrem Tod, saß ich stundenlang hier, zupfte Grashalme und schüttete ihr mein bis über beide Ohren verliebtes Teenager-Herz aus.
Doch irgendwann ging die Zeit weiter. Ich wechselte aufs College in der Nachbarstadt und verbrachte die Wochenenden bei Ty, der an der University of Boston ein Baseballstipendium bekommen hatte. Die Jahre vergingen, und ich besuchte meine Mutter zwar immer noch, doch dabei kam mir das Leben in die Quere, und ich hatte immer das Gefühl, Mom hätte sich genau das für mich gewünscht. Aus wöchentlichen Besuchen wurden monatliche, und aus monatlichen wurden bald Besuche zu besonderen Gelegenheiten. Natürlich vermisste ich meine Mutter so sehr, dass ich manchmal das Gefühl hatte, mir hätte jemand das Herz aus dem Leib gerissen, aber gleichzeitig fand ich einen Weg, darüber hinwegzukommen. Im sicheren Bau von Westlake, wo das Leben sich verlässlich wiederholt wie in Täglich grüßt das Murmeltier – keine hektischen Bewegungen, keine Veränderung, keine sinnbildlichen Erdbeben, die die Welt mit gefährlichen Rissen durchziehen –, habe ich es geschafft, mich beinahe heil zu fühlen.
Darcy hingegen hat nie vergessen. Sie hat der Zeit nie gestattet, ihre Wunden zu heilen. Sie hält Moms Jahrestage fest, als wären es ihre eigenen, hat Westlake an einem langen Gummiband verlassen und schnalzt scheinbar zufällig immer wieder nach Hause zurück. Doch es ist kein Zufall, weil es immer zu einem Jahrestag geschieht, sei es Moms Todestag, der Tag ihrer Diagnose, ihr Hochzeitstag oder, wie heute, ihr Geburtstag. Kurze Zeit darauf flieht sie wieder, spätestens dann, wenn die Stadt ihre Seele beschwert, was unweigerlich früher oder später geschieht.
Auf der Wiese haben es sich die Grillen gemütlich gemacht, offenbar immun gegen die Hitze. Ihr Abendkonzert dient uns als Hintergrundgeräusch. Sonst ist alles still. Der Friedhof ist verlassen: entweder, die Leute sind noch immer auf dem Festplatz oder im Stadion in Tarryville beim Minor-League-Spiel, oder sie machen es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich. Ich wünsche meiner Mutter alles erdenklich Gute zum Geburtstag, streiche liebevoll über den warmen Grabstein und wünschte, wie immer, wenn ich mir endlich mal die Zeit nehme, sie zu besuchen, die Dinge wären damals anders gelaufen, jemand hätte uns gewarnt, dass die Bauchkrämpfe, die Blähungen und ihr schlechter Allgemeinzustand keineswegs nur auf einen schwachen Magen zurückzuführen waren, wie sie damals dachte. Ich wünschte, jemand hätte damals ausreichend Weitsicht besessen, hätte eine Karte der Zukunft in Händen gehabt, um uns zu warnen. Dass in Wirklichkeit Eierstockkrebs die Ursache für all das war und dass uns zu dem Zeitpunkt, als die Diagnose endlich feststand, rein gar keine Zeit mehr blieb. Vier ganze Monate, von denen sie zwei fast nur schlafend verbrachte, immer am Rande der Bewusstlosigkeit. Wieso gab es niemanden mit so einer Landkarte? Wieso hat es niemand kommen sehen?
Während ich mit den Fingern die Inschrift nachfahre, MARGARET EVERETT, das M, das A, dann das R, denke ich flüchtig darüber nach, wie anders unser aller Leben verlaufen wäre, wenn jemand es vorhergesehen hätte, wenn jemand in die Zukunft hätte schauen können.
Doch dann komme ich wieder zu mir und erinnere mich daran, wie sehr ich mein jetziges Leben liebe, wie sehr ich meinen Mann liebe, wie sehr ich mich darauf freue, endlich selbst Mutter zu werden und wie dankbar ich dafür bin, dass wir es – größtenteils – gut überstanden haben, so gut jedenfalls, wie man hoffen durfte. Mein Vater ist trocken. Luanne gleitet durchs Leben, als wäre nie etwas geschehen. Darcy – na ja, Darcy vielleicht nicht.
«Dad ist heute eindeutig nicht hier gewesen», sagt Darcy, als wir zurück zum Parkplatz gehen. «Es waren nur Lulus Blumen da.»
«Er ist in Mexiko», sage ich, ohne nachzudenken.
«Was? Er ist an Moms Geburtstag nach Mexiko geflogen? Gott, was für ein Arschloch!»
«Darce, sei doch mal fair, es ist schon so lange her.» Mist! Sei doch einfach still, Tilly!
Sie bleibt abrupt stehen, kurz vor dem Parkplatz, dreht sich zu mir um, mit einem Blick – Aua, schau mich nicht so an, Schwesterchen
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