Was im Leben zählt
einer zufälligen Sekunde für alle Zeit Bedeutung verlieh. Und ich war gefesselt – in hohem Bogen flogen Andy Mosley und seine Zahnspange aus meinem Gehirn. Und während meine Freundinnen an ihren Paddelkünsten feilten oder Freundschaftsbänder flochten, fand man mich bald fast nur noch im Halbdunkel, wo ich ein weißes Blatt Papier in ein Stück Geschichte verwandelte.
Ich wühle in dem Durcheinander aus Bildern und lasse die Fingerspitzen über die Chronologie meines Lebens gleiten, bis ich das Bild gefunden habe, das ich im Sinn hatte.
Es handelt sich um eine Schwarzweißaufnahme. Ich hatte den Selbstauslöser programmiert und war zu den anderen auf die Veranda gehastet, im letzten Moment neben Luanne gehechtet und hatte, ehe es klick machte, noch schnell ein panisches Grinsen aufgesetzt. Mein Vater hat meiner Mutter lässig den Arm über die Schulter gelegt, und wir drei Schwestern sitzen zu ihren Füßen auf den Stufen, auch wenn mein Körper irgendwie ein bisschen verdreht wirkt, weil ich mich so beeilt habe. Von der Holzveranda blättert leicht die Farbe ab, und im Hintergrund hängt in Erwartung der nächsten Brise schlapp die amerikanische Flagge. Und wir? Wir wirken so lebendig, die Augen strahlen, und wir fünf sind alle zusammen, eine richtige Familie.
In meinen Augen brennen Tränen, und dann spüre ich erst eine, dann zwei, dann drei die Wangen hinunterlaufen. Sie sammeln sich am Kinn und tropfen auf den Boden. Es war im Sommer vor der Diagnose meiner Mutter, ehe alles anders wurde, ehe ich anfing zu hoffen, jemand würde kommen und die Zeit anhalten und uns in eine andere Richtung drehen. Ehe Darcy erstarrte, ehe wir umeinander herumredeten, ehe ich je auf die Idee gekommen wäre, eine Liste der Situationen zu erstellen, aus denen ich sie mal wieder retten musste.
Ich stehe vorsichtig auf, um wieder ins Bett zu gehen, das Bild immer noch in der Hand. Ich streiche mit dem Zeigefinger sanft über das Gesicht meines Vaters, wundere mich darüber, wie sehr er gealtert ist, wie schlecht die Wunden geheilt sind, die die Zeit einem schlägt. Und dann spüre ich ihn schon wieder – diesmal gibt es kein Vertun: ein Krampf im Zeh, dann im Bein, dann immer weiter rauf, mitten durchs Herz und bis in den Kopf, und ich kann Ashley Simmons’ Gesicht nicht abschütteln und ihren wissenden Blick und das Gefühl unserer verschränkten Finger. Und dann falle ich. Ich falle, falle, falle, unfähig, mich gegen den schwindelnden Sog der Schwerkraft zu wehren. Ich höre einen beunruhigenden, dumpfen Schlag, und um mich herum wird alles schwarz.
Mein Vater hat sich in Mickey Mantle’s an den Tresen geschlichen, der Sportbar in dem kleinen Einkaufszentrum direkt hinter der Route 17, eingequetscht zwischen Applebee’s und einem Nagelstudio. Ich beobachte ihn aus einer Ecke heraus. In der Luft hängen dichte Rauchschwaden von den Stammkunden, die mit gespitzten Mündern an ihren Zigaretten ziehen. Aus der Jukebox im Billardzimmer ertönt Rick Springfields Jessie’s Girl, und wenn ich genau hinhöre, kann ich hören, wie die Billardkugeln aneinanderklacken.
Die mit schwarzem Leder bezogenen Barhocker rechts und links von meinem Vater sind leer. Nur am Ende des Tresens hocken ein paar Männer, die mit glasigem Blick ihr Bier trinken und auf den Fernseher starren, wo aus Los Angeles die Verlängerungs-Innings des Spiels der Chicago Cubs gegen die L.A. Angels übertragen werden.
Niemand nimmt Notiz von mir, obwohl ich die einzige Frau im Raum bin, abgesehen von Cindy Heller, die in der High School drei Klassen über mir war und inzwischen aussieht, als wäre sie mir zwei Jahrzehnte voraus. Sie ist direkt nach ihrem Senior Year schwanger geworden und hat inzwischen drei Kinder von zwei verschiedenen Vätern, von denen keiner lange genug geblieben ist, um sich auf Unterhalt festnageln zu lassen. Mit gerunzelter Stirn dreht sie ihre Runden durchs Lokal, mal mit randvollen Gläsern, mal mit einer Portion Nachos auf dem Tablett.
Mein Vater gibt dem Barkeeper ein Zeichen, und ich sehe direkt vor ihm zwei Schnapsgläser auftauchen. Er greift erst nach dem einen und dann nach dem anderen, und ich schreie aus Leibeskräften, als er sie runterkippt wie Wasser, wie Luft, als wäre er nicht seit fast zehn Jahren trocken und als hätte das Gift, das er gerade runtergekippt hat, ihn nicht fast umgebracht. Ich schreie und schreie, aber keiner dreht sich zu mir um. Es ist, als würde niemand mich hören. Ich versuche, mich auf ihn
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