Was im Leben zählt
Déja-vu-Erlebnis.
Aus der Küche dringen laute Stimmen in den Flur. Ich stelle den Schirm neben die Haustür, ziehe eilig den Mantel aus und gehe nachsehen. Darcy – diesmal mit lila Haaren – und mein Vater geben Vollgas.
«Was ist hier los?» Ich muss schreien, um mir Gehör zu verschaffen.
«Oh, Tilly», sagt mein Vater erschrocken. «Ich wollte dir moralische Unterstützung geben. Ich wollte da sein, falls du mich brauchst.»
«Danke.» Ich nicke. «Aber was soll das Gebrüll?»
«Das hier habe ich gefunden!» schreit Darcy. «Diese Scheiße hier. In deiner Speisekammer!» Sie schüttelt eine halbvolle Flasche Wodka.
«Beruhig dich», sage ich. «Wem gehört die? Mir nicht.» Ich bin um meine professionelle Beratungsstimme bemüht, doch ich muss feststellen, dass sie mich inzwischen fast verlassen hat, als wäre das Beraten eine Rolle, die ich mal gespielt habe und an die ich mich nicht mehr erinnern kann.
«Die hat Dad hier gebunkert!» Darcy ist dunkelrot angelaufen. Auf ihren Wangen leuchten hektische Flecken, und ihre Augen treten gefährlich aus dem Kopf.
«Warum hast du eine Flasche bei mir versteckt, Dad?» Ich drehe mich zu ihm um. «Ich habe dieses Haus komplett ausgeräumt. Außerdem trinkst du doch nicht mehr!»
«Weil er nicht trocken ist!», sagt Darcy schneidend. «Ich habe es gewusst! Ich wusste genau, dass das passiert!»
«Schluss jetzt!» Meinem Vater platzt der Kragen. «Ich bin definitiv trocken! Du bist immer noch meine Tochter, und ich verbiete dir, so mit mir zu sprechen!»
«Werdet ihr beide jetzt wohl den Mund halten?» Ich muss schon wieder brüllen. «Und würde mir bitte endlich jemand sagen, was hier los ist?»
«Gut!» Darcy wirft sich schmollend auf den nächsten Küchenstuhl, die Flasche immer noch in der Hand. «Ich bin heute Morgen von Dante zurückgekommen und hatte Lust auf ein Glas Cranberrysaft. Also habe ich in der Speisekammer welchen gesucht und stattdessen das hier gefunden.» Sie schüttelt den Wodka, als wollte sie die Flasche würgen. «Dass er nicht dir gehört, war mir klar – ich wusste ja, dass du sämtlichen Alkohol rausgeschmissen hast –, und als Dad dann aufgetaucht ist, habe ich ihn zur Rede gestellt, und er hat es natürlich abgestritten, und dann hat er es nicht mehr abgestritten, und jetzt sind wir wieder in derselben alten Scheiße, Scheiße, Scheiße!»
«Dad?»
«Hör mal», sagt er kleinlaut. «Ich gebe zu, dass ich eine einzige Flasche hier versteckt habe, ganz hinten in der Speisekammer, nur für den Fall.»
«Für welchen Fall?», frage ich, starr vor Schreck und wütend zugleich.
«Keine Ahnung», stottert er. «Nur für den Fall eben.» Ich werfe Darcy einen Blick zu, aber sie reißt nur wütend die Augen auf, wie um zu sagen: Mich brauchst du nicht zu fragen, ach, und übrigens: Ich hab es dir gleich gesagt!
«Nur für welchen Fall?», frage ich noch mal.
«Nur für den Fall, dass er eines Tages auf die Idee kommt, er wäre gerne endlich wieder mal so ein Riesenschlappschwanz, wie er immer schon gewesen ist!» Darcy kann nicht anders. «Und nur um sicherzugehen – damit absolut und ein für alle Mal klar ist, dass du null, null Komma null Chance hast, den Scheiß hier noch mal anzurühren, kümmere ich mich jetzt selbst darum!» Darcy schraubt die Kappe ab, kippt sich den restlichen Wodka in den Mund und schluckt. Der letzte Rest landet auf ihrem Pullover und breitet sich langsam zu einem hässlichen Fleck aus. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich natürlich gewusst, dass es dazu kommt, wenn ich nur nachgedacht hätte – meine Vision und der Fleck auf ihrem Sweatshirt. Darcy braucht fünf Riesenschlucke um die Flasche zu leeren. Mir ist klar, dass sie mit aller Macht den Impuls unterdrückt, alles wieder auszukotzen, so sehr ist sie bemüht, ihren Standpunkt klar zu machen.
«Ach, um Gottes willen, Darcy!», sagt mein Vater verzagt.
«Leck mich doch!», schreit sie. Die Worte bleiben hinter ihr im Raum hängen, während sie schon zur Haustür hinausgeflohen ist, raus in den eiskalten Regen, vorbei an Tyler und Austin, die die Überbleibsel meines alten Lebens verräumen. Vom Ende der Auffahrt schreit sie über die Schulter zurück: «Ich habe die Schnauze voll, deine Geheimnisse für mich zu behalten, nur damit du es jedes Mal, wenn du dich beweisen könntest, wieder verkackst!»
«Was meint sie damit?» Ich komme mir vor wie die Schwester in der Notaufnahme, die nicht weiß, welche Wunde sie zuerst versorgen
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