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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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anstatt ihr Egoismus vorzuwerfen, der Tatsache ins Auge blicken sollte, dass Darcy wütend und eingeschnappt ist und ihre große Schwester im Augenblick wahrscheinlich mehr braucht als je zuvor.
    «Die ist bestimmt bei Dante», sage ich. Mir hängt ein Stückchen Kruste in der Kehle, das ich mit einem großen Schluck Cola hinunterspüle.
    Im gleichen Augenblick klingelt das Telefon. «Das ist sie.» Ich verdrehe die Augen und reiche Susanna den Hörer. «Geh du ran. Ich habe keine Lust.»
    «Hallo?» Das Telefon zwischen Kinn und Schulter geklemmt, angelt Susie sich das nächste Pizzastück aus dem Karton. «Ja. Hallo!» Ihre Augenbrauen bilden ein steiles Dreieck über ihrer Nase. «Nein … nein … wir wissen auch nicht, wo sie ist.» Sie sieht mich besorgt an. «Okay, klar … Sag ich ihr. Ja, wir geben Bescheid. Wir melden uns.»
    «Wer war das denn?» Ich picke an den Käseresten auf meinem Teller herum.
    «Das war Dante. Er wollte wissen, wo Darcy steckt. Sie ist nicht zur Probe gekommen. Offensichtlich hat der Geschäftsführer von Oliver’s ihnen irgendeinen Deal angeboten.»
    «Hat er es auf ihrem Handy versucht?», will ich wissen. «Diese Tour zieht sie nämlich ständig ab.»
    «Er klang wirklich besorgt», sagt Susie. «Er hat es auf ihrem Handy probiert und bei sämtlichen Leuten, die sie kennen. Keiner hat sie gesehen. Und er meinte, sie sei so scharf auf die Sache bei Oliver’s, dass sie nie im Leben eine Probe sausenlassen würde.»
    «Ach, keine Ahnung.» Ich stehe auf, um den Pappteller in den Müll zu werfen. «Wahrscheinlich ist mal wieder ihr Akku leer, und ihr ist es völlig egal, dass sie alle Welt hängenlässt und dass es Leute gibt, die sich Sorgen um sie machen.»
    «Till!», sagt Susie sanft und rückt den Stuhl zurecht, um mir ins Gesicht zu sehen. «Das ist nicht fair. So ist Darcy doch gar nicht mehr.»
    «So sehe ich sie aber», antworte ich störrisch, obwohl ich weiß, dass das nicht mehr ganz stimmt.
    «Sie war nett zu dir. Richtig toll. Sie ist hiergeblieben, weil sie dich nicht allein lassen wollte. Das hat niemand von ihr verlangt. Die alte Darcy hätte das bestimmt nicht getan.»
    Ich denke einen Augenblick darüber nach. Sie hat recht. Ob ich heute wütend bin oder nicht – und ich bin wütend –, Darcy ist nicht mehr dieselbe kleine Schwester, die damals im Juli bei mir auf der Verandatreppe aufgetaucht ist, bockig und selbstgerecht und beleidigt, weil die ganze Welt sie im Stich gelassen hat. Sie hat geholfen, mich zu beschützen. Ich starre unseren Küchenboden an – meinen Küchenboden, nachdem Tyler nun endgültig weg ist –, und mir wird mit Erstaunen klar, dass die Möglichkeiten, einander wirklich zu beschützen, im Grunde nur sehr beschränkt sind.
    Darcy, meine süße kleine Schwester, hat sich gehäutet und ist an sich selbst gewachsen. Jetzt bin ich dran.
    «Okay.» Ich nicke Susanna zu. «Ich weiß, wo sie sein könnte. Komm mit.»
    Ich schnappe mir den Schlüsselbund vom Tisch. Es gibt Bürden, die man gemeinsam trägt, und es gibt Bürden, die man allein schultern muss. Doch auch das geht leichter, wenn wir den Rückhalt unserer Geschwister haben, unserer Freunde, der Menschen, die uns zur Seite stehen und uns stützen, wenn wir ins Straucheln geraten.

    Es hat angefangen zu schneien. Ein eisiger Wind weht über Westlake und verwandelt den eben noch herbstlichen Regen in heimtückisches Weiß.
    «Ich kann mich nicht erinnern, wann es im Oktober zuletzt so geschneit hat», sagt Susie. «Es ist doch gerade mal Herbst! Mein Gott!»
    «Das wird ein langer Winter», pflichte ich ihr bei, die Augen auf die Straße geheftet.
    Ich habe den Winter nie gemocht, konnte mich noch nie am Schnee erfreuen, obwohl der Winter Tylers Lieblingsjahreszeit ist. Für ihn hat Schnee etwas Friedliches, Tröstliches, während ich ständig Angst habe, auszurutschen, hinzufallen, unter einer schweren weißen Decke zu ersticken. Ich habe ihm das nie erzählt; es hätte nicht zu meinem sonnigen Wesen gepasst. Also habe ich mich stattdessen über die eisigen Temperaturen beklagt. Wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich Folgendes gesagt: Ich habe Angst vor dem Winter, Angst, dass er die Schwächeren von uns verschlingt und nur die Starken überleben lässt.
    Ich fahre im Schneckentempo. Die Scheibenwischer kämpfen hektisch gegen dicke Flocken, die sich hartnäckig auf der Windschutzscheibe niederlassen. Im Kofferraum rutscht der Karton mit dem Müll herum, den Tyler heute

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