Was im Leben zählt
soll.
«Ich habe nicht wieder angefangen zu trinken, Tilly», sagt mein Vater, anstatt zu antworten. Die Angst vor noch unbekannten Folgen steht ihm offen ins Gesicht geschrieben. «Das musst du mir glauben.»
Ich starre meinen Vater einen Herzschlag lang an und dann noch einen, und plötzlich bin ich so wütend wie noch nie in meinem Leben. Auf ihn, auf Darcy, auf Tyler, weil sie in meinem Haus, in meinem Leben einfach alles auf den Kopf stellen, und zwar genau in dem Moment, wo ich niemanden um irgendwas gebeten, sondern nur gehofft habe, dass sie selbstlos genug sein könnten, ausnahmsweise mal für mich da zu sein. Zum Dank für all das, was ich in der Vergangenheit für sie getan habe.
«Hör auf damit, ja?» Meine Stimme zittert vor Abscheu. «Hör einfach auf! Reiß dich zusammen. Mach eine Therapie. Und zwar keine, wo nur für den Fall immer eine Flasche in der Nähe sein muss. Sei für mich da. Sei für deine Töchter da. Fang verdammt noch mal endlich an, ein Vater zu sein! Weil ich nur schwer Tochter für dich sein kann, solange du deine Rolle nicht endlich auch übernimmst!»
«Das ist unfair», protestiert er. «Die letzten beiden Monate …» Aber ihm gehen Worte und Fassung gleichzeitig verloren, weil ihm klar ist, dass zwei Monate Vater spielen Jahre der Vernachlässigung nicht aufwiegen können. Tränen steigen ihm in die Augen und laufen ihm über das Gesicht, aber ich kann ihn nicht trösten. Ich renne, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, knalle die Schlafzimmertür zu und falle bäuchlings aufs Bett. Ich ziehe mir die Kissen über den Kopf und versuche das ganze Chaos einfach auszublenden, jedes einzelne Stück davon. Als ich mich dann irgendwann wieder aufsetze und die Kissen wieder ordentlich an ihren Platz räume, merke ich, dass Tyler wirklich alles mitgenommen hat – Wintersachen, Sommersachen, Schuhe, Krawatten, Gürtel, sämtliche Baseballkappen, die er bereits lange vor unserer Zeit angefangen hat zu sammeln.
Ich wage einen Blick hinüber zu seinem Schrank. Er ist leer, die Tür geöffnet, ein Sarg ohne Leiche. Ich stehe auf, gehe zum Schrank und werfe mich förmlich hinein. Die Arme um die Knie geschlungen, kauere ich auf dem staubigen Holzboden. Die Metallstangen über mir sind nackt; auf den Regalböden neben mir stapelt sich nur noch leere Luft. An der Hemdenstange baumeln ein paar einsame Drahtbügel. Ich lehne mich gegen die Seitenwand und atme aus, gebrochen, betäubt, und ergebe mich der übermächtigen Stille. Mit dem rechten Fuß ziehe ich, so gut es geht, die Schranktür zu, dann schließe ich die Augen und wünschte, ich könnte für immer in diesem dunklen Raum versinken, wünschte, die Dunkelheit könnte mich einfach verschlucken.
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Dreiundzwanzig
A ls abends der Pizzamann kommt, ist Darcy immer noch nicht zurück. Susanna hat gefragt, ob sie bei mir übernachten darf, so wie damals mit zehn, als Ashley noch zu unserem Trio gehörte und wir die ganze Nacht lang geflüstert haben, bis unsere Körper irgendwann in den Morgenstunden einfach den Dienst versagten und wir gegen unseren Willen einschliefen. Damals, als es keine anderen Sorgen gab, als rauszufinden, wie man zungenküsst oder wie weit wir unsere Hosenbeine aufrollen sollten.
Ich habe Ashley auch eingeladen, aber sie hat abgesagt. Ihre Mutter ist inzwischen kaum noch bei Bewusstsein, und sie will sie in diesen letzten flüchtigen Augenblicken nicht mehr allein lassen. Ich verstehe sie besser, als mir lieb ist, und als wir auflegten, hatte ich Mühe, die Erinnerungen an die letzten quälenden Stunden meiner Mutter aus meinem Gedächtnis zu verbannen.
Meine Mutter starb schnell, aber nicht schmerzlos. Der grausamste Teil, wenn der sich überhaupt festmachen lässt, war, dass wir ganz zum Schluss auf einmal dachten, ihr sei noch eine Gnadenfrist vergönnt. Die Chemotherapie schlug an, entgegen der Prognose der Ärzte. Die Tumore schrumpften, unsere Hoffnung schwoll an wie eine Flutwelle, und die Ärzte murmelten Dinge wie: «Für eine sichere Aussage ist es noch zu früh, aber wir sind vorsichtig optimistisch», oder: «Vielleicht gehört sie zu den berühmten Ausnahmen von der Regel; den Willen dazu hätte sie», als hätte Wille irgendwas damit zu tun, als wäre der Wille allein genug, um Krebs zu besiegen. Doch die Tumore schrumpften tatsächlich, die Anzahl weißer Blutkörperchen stieg langsam wieder in Richtung Normwert, und obwohl man uns davor warnte, allzu große
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