Was im Leben zählt
nicke, werfe ihr eine Kusshand zu und wende mich zum Gehen. Aber anstatt in Richtung Ausgang gehe ich unwillkürlich zu Valeries Zimmer. Ich weiß, wo sie liegt, weil ich bereits da gewesen bin, und genau wie in meiner Vision liegt ihr Zimmer dem Automaten gegenüber. Ashley sitzt am Bettrand. Ihre Mutter ist nach ein paar wachen Augenblicken schon wieder eingeschlafen, und als ich an der Glasscheibe auftauche, springt Ashley auf und kommt zu mir auf den Gang hinaus.
Ehe ich etwas sagen kann, fängt sie an: «Ich weiß, es kommt dir komisch vor.» Aus ihren Augenringen sind inzwischen ausgewachsene Halbmonde geworden, die ihr gesamtes Gesicht verändern. Sie erinnert mich an die Dementoren bei Harry Potter, kein sehr netter Vergleich, aber treffend. «Ich, ich weiß, es ist seltsam, aber …», stammelt sie. «Weißt du, ich gebe hier wirklich mein Bestes, aber ich bin ganz auf mich allein gestellt. Und als dein Vater auf einmal ankam und mir seine Hilfe anbot, habe ich sie angenommen.»
«Ich finde es nicht seltsam, dass du Hilfe angenommen hast», sage ich sanft, mitfühlend, denn trotz allem, was mir in letzter Zeit widerfahren ist, ist die menschliche Natur mir nicht fremd. Ich verstehe, wie sehr Verzweiflung und Schmerz und Wut und Versagen in der Lage sind, einen Menschen zu bestimmen. «Ich finde es nur seltsam, dass er sie überhaupt angeboten hat.»
«Weiß ich», sagt sie seufzend. «Es ist ziemlich kompliziert.»
«Wieso?» Eine schlichte Frage.
«Das würde im Augenblick zu weit führen.» Ashley massiert sich die Schläfen, als würde das Gespräch ihr Migräne verursachen, als drohe ihr Verstand, an der ganzen Geschichte zu zerplatzen, während ich, schon wieder gehässig, denke: Ich hätte selbst allen Grund für Migräne! «Du bist ein kluges Mädchen, Tilly. Du kommst sicher selber drauf, ganz bestimmt. Du hast alles, was du dazu wissen musst.»
Ehe ich fragen kann, was sie bitte damit meint, taucht eine Schwester auf und murmelt etwas von Blutdruck und Medikamenten und Infusionen. Ashley nimmt die Informationen auf wie eine eifrige Medizinstudentin und eilt, ohne sich zu verabschieden, zurück ins Zimmer, um die Behandlung zu beaufsichtigen.
Ich bleibe, ich weiß nicht wie lange, stehen und sehe zu, wie man sich um Ashleys Mutter kümmert, während Ashleys Hand auf ihrer Stirn ruht, eine zärtliche Geste der Zuneigung. Ich könnte für immer so stehen bleiben, als passive Beobachterin, während das Leben vor mir seine Bahnen zieht. Doch dann wird über die Lautsprecher ein Notfall ausgerufen, ich erwache aus meiner Trance, drehe mich um und gehe davon, den schummrigen Gang hinunter, hinaus auf den Parkplatz und frage mich, was zum Teufel ich Ashleys Meinung nach sehen soll.
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Zweiundzwanzig
T yler ist zwar schon Freitag eingetroffen, aber zu mir kommt er erst am späten Samstagvormittag. Ich habe auf Susannas Rat hin die Schlösser auswechseln lassen – vielleicht unnötig, aber trotzdem ein eindeutiges Signal –, und er muss zweimal klingeln, ehe ich ihm aufmache. Ich habe den Vormittag genutzt, um mich aufzuraffen, im wahrsten Sinne des Wortes – als würde ich mit der Nadel eine aufgetrennte Naht neu säumen. Eine ausgiebige Dusche, ein Spritzer Parfum, ein Hauch Rouge und der jadegrüne Rollkragenpullover, mit dem meine Augen laut Tyler aussehen wie zwei Ostereier, glänzend und leuchtend und verlockend. Während ich mir die Haare föhne, bis sie glatt und seidig auf die Schultern fallen, betrachte ich mein Spiegelbild und versuche, mir darüber klarzuwerden, weshalb ich hier stehe und an meiner Makellosigkeit arbeite: weil er mich auf Knien anflehen soll, ihn zurückzunehmen, oder weil er vor Reue tot umfallen soll, direkt auf meiner Veranda? Ein bisschen von beidem wahrscheinlich, denke ich und lasse den Ehering in das Schmuckkästchen fallen. Ich trage ihn eigentlich immer noch, aber heute? Nein, heute sicher nicht.
Als Tyler kommt, regnet es immer noch, obwohl die Wettervorhersage für Nachmittag den ersten Schnee des Jahres angekündigt hat, und als ich die Haustür öffne, tobt in meiner Magengrube ein Hornissenschwarm, und simultan verschwören sich sämtliche Schweißdrüsen wie eine meuternde Mannschaft gegen mich und öffnen alle Schleusen.
«Hallo», sagt er und schluckt.
«Hallo», höre ich mich antworten. Ich habe das Gefühl, außerhalb meines eigenen Körpers zu sein. Tyler hat sich die Haare kurz schneiden lassen, so kurz wie seit dem
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