Was im Leben zählt
Hoffnungen zu hegen, war das natürlich völlig vergeblich. Wenn man neun Jahre alt ist oder fünfzehn oder siebzehn und die eigene Mutter in einem sterilen Krankenhausbett zu einem Schatten ihrer selbst zusammengeschrumpft ist, ist Hoffnung das Einzige, was einen noch über Wasser hält. Weil man noch nicht weiß, dass die Welt manchmal eiskalt und unlogisch ist und auch ohne Vernunft und Mitgefühl funktioniert. Das sind Lektionen, die erst später dran sind oder später dran sein sollten. Das galt nicht für uns. Für uns kamen sie zu früh.
Mit meiner Mutter ging es bergauf. Die Ärzte hatten dem Krebs in ihrem Unterleib Paroli geboten, den in ihren Knochen gebremst und den Ursprungstumor ausgelöscht: den in den Eierstöcken, ausgerechnet, der Ort, in dem wir Töchter einst unseren Anfang nahmen. Als die frohe Kunde kam, war mein Vater noch im Laden, aber wir vier anderen jubelten in unserer frischtapezierten Küche, hoben die Tassen und stießen mit Kamillentee an, unser ganz privates Triumphgeläut. Ehe meine Mutter krank wurde, hat bei uns zu Hause niemand Tee getrunken, aber als Kräutertee irgendwann eines der wenigen Getränke wurde, die sie bei sich behielt, lernten wir ihn zu lieben.
Auf eine gute Woche folgte eine zweite, und dann brach meine Mutter an einem Sonntagnachmittag auf der vorderen Veranda zusammen. Mein Vater war noch im Geschäft – es war Labor Day Sale –, und ich weiß noch, wie ich Darcy anschrie. «Steig sofort ins Auto!» , schrie ich, Luanne und ich hievten meine Mutter hoch, legten uns ihre leblosen Arme über die Schultern und rasten mit ihr ins Krankenhaus. Danach ging alles ganz schnell. Der Krebs hatte in ihr Hirn gestreut, und von dort gab es kein Zurück mehr. Wir waren alle bei ihr, als sie ging, und ich möchte gerne glauben, dass sie gehen konnte, weil sie wusste, dass mit uns alles gut werden würde. Weil ich darauf bestehen würde, dass alles wieder gut wurde, denn mir war klar, dass diese Last mein Erbe war. Ich hatte ihr irgendwann spät abends, als sie schon schlief – noch bei uns zu Hause, nicht im Krankenhaus –, ein Versprechen gegeben. Ich war zu ihr ins Bett gekrochen, hatte mich unter die Decke gekuschelt, ihr übers Haar gestreichelt und ihr ins Ohr geflüstert, dass ich alles wiedergutmachen würde. Ich wollte so sehr, dass ihr Leiden ein Ende hatte, und ich glaube, ich hätte alles getan, alles gesagt, um das zu erreichen, auch wenn das hieß, sie aufzugeben, das Einzige in meinem ganzen Leben aufzugeben, von dem ich mich nie trennen wollte.
Bis jetzt. Jetzt wollte ich mich nicht von Tyler trennen, aber die Lektionen des Lebens bleiben hängen, auch wenn ich versucht habe, sie zu vergessen, so getan habe, als hätte ich nie irgendwas gelernt. Das Leben kann grausam sein, bitter und sinnlos. Und jetzt sitze ich zusammen mit meiner ältesten Freundin da und versuche, mir wenigstens ein Stückchen Peperonipizza reinzuwürgen, während meine zweitälteste, jüngst wiedergefundene Freundin sich darauf vorbereitet, ihre Mutter zu beerdigen, und mir wird klar, dass Lektionen dazu dienen, etwas zu lernen. Mehr noch, man muss sie anerkennen und würdigen, weil man sonst womöglich sein ganzes Leben lang vor ihnen davonläuft, so weit, dass man eine verlogene Existenz aufbaut, rund um den einen Punkt herum, den man eigentlich annehmen sollte.
«Das Leben nervt!», sage ich zu Susie.
«Manchmal.» Sie wischt sich mit dem Handrücken einen Käsefaden vom Kinn. «Aber das geht vorbei.»
«Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll.»
«Du bist doch hier die Optimistin.» Susie lacht. «Wenn du mir das nicht glaubst, sind wir wirklich am Arsch.» Sie zögert. «Weißt du, ich glaube, ich mag Scotty Hughes richtig gern. Also, mir ist schon klar, dass du wirklich getroffen warst, als ich Austin verlassen habe …»
Ich winke ab. «Das war mein eigenes Problem. Im Grunde ging es dabei um Tyler und mich. Weißt du, ich glaube, ich wollte einfach nicht, dass sich irgendwas ändert, und ich dachte, wenn du und Austin es schafft …» Ich zucke die Achseln, und sie nickt.
«Findest du nicht, du solltest rauskriegen, wo Darcy steckt? Ob es ihr gutgeht?», fragt Susanna schließlich.
Ich bin immer noch viel zu wütend, um ihr nachzurennen, doch langsam nagt leiser Zweifel an mir, und ich weiß, dass ich es trotzdem tun sollte. Ich weiß, dass ich genauso an meiner Rolle schuld bin, wie sie meine Rolle immer bereitwillig akzeptiert hat, und ich weiß, dass ich,
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