Was ist Demokratie
fast schon in der Kriegsniederlage und beginnenden Revolution unter.
Die These von einem deutschen «Sonderweg» in die Moderne, der nicht zuletzt durch eine verzögerte, blockierte Demokratisierung im Kaiserreich gekennzeichnet wäre, wird inzwischen kaum noch vertreten. Sie ist schon deshalb problematisch, weil das Kaiserreich in Grundzügen seiner politischen Verfassung kaum weniger demokratisch war als irgendeine andere gröÃere Nation zur selben Zeit. In England jedenfalls war das Wahlrecht rückständiger und die Gesellschaft nur auf andere Weise gespalten als in Deutschland; in den USA drängte derRassismus im Süden die Schwarzen zunehmend aus Gleichheit und Bürgerschaft heraus. Frankreich immerhin war Republik mit allgemeinem Männerwahlrecht, doch auch das schützte vor illiberalen Zügen in der Gesellschaft nicht, zum Beispiel einem vehementen Antisemitismus, wie er sich in der «Dreyfus-Affäre» der 1890er Jahre offenbarte. Der Blick auf das Kaiserreich, das nur kurze vierzehn Jahre vor dem 30. Januar 1933 endete, wird sich auch in Zukunft nicht von der Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und den Ursachen der völkermordenden NS-Diktatur trennen lassen, auch wenn in der Wissenschaft im Moment die eher kurz- und mittelfristigen Ursachen wieder mehr betont werden: die Folgen des Ersten Weltkriegs etwa und eine durch ihn genährte Kultur der Gewalt. Die deutsche politische Kultur am Ende des Kaiserreichs war «nicht pränationalsozialistisch, aber widerstandsarm gegen Machtmissbrauch, Radikalnationalismus, Illiberalismus»: an diesen «Schattenlinien» gab es auch für Thomas Nipperdey, einen Kritiker der Sonderwegthese, nichts zu deuteln. Am Ende markieren sie auch ein demokratisches Defizit.
7 Siedlergesellschaften:
Gewalt und expansive Freiheit
Hart arbeitende Siedlerfamilien an der Grenze der Zivilisation, weit weg von politischen Autoritäten: Entsteht so nicht eine individualistische Lebenshaltung, die sich gerade noch auf den Nachbarn verlässt, aber keine Befehle von auÃen akzeptieren will; oder eine eingeschworene Gemeinschaft von Gleichen, die ihre politischen Verhältnisse selber regelt? Mit solchen Bildern und Erfahrungen ist die Entstehung von Demokratie oft aus dem Geiste von Siedlergesellschaften erklärt worden. Das ist schon deshalb eine interessante Theorie, weil sie sich nicht auf das Wirken der Ideen berühmter Vordenker verlässt, sondern nach konkreten sozialen Konstellationen und praktischen Erfahrungen fragt, in denen Demokratie plausibel werden konnte. Ihren bekanntesten und bis heute einflussreichsten Ausdruck hat diese Siedler-Theorie in den Schriften des amerikanischen Historikers Frederick Jackson Turner gefunden. Nach der Volkszählung von 1890 hatten die Behörden festgestellt, die (weiÃe, europäische) Besiedlung sei nun so weit fortgeschritten, dass es eine klare Siedlungsgrenze, eine «frontier» nicht mehr gebe, an der in den Vorstellungen des 19.Jahrhunderts «Zivilisation» und«Wildnis» aufeinanderprallten. Schon seit dem 17. Jahrhundert hatte sich diese Grenze, von der Atlantikküste ausgehend, immer weiter nach Westen verschoben, über die Appalachen, dann über den Mississippi. 1890 existierten noch viele inselartige Gebiete, in denen Europäer sich noch nicht angesiedelt hatten, aber im Prinzip war die Brücke zur Pazifikküste geschlagen.
Turner erkannte darin, in seinem berühmten Vortrag auf der Chicagoer Weltausstellung von 1893, eine tiefe Zäsur in der bisherigen amerikanischen Geschichte. Er blickte durchaus sorgenvoll in die Zukunft und fragte, wie sich Gesellschaft und Demokratie eines Landes weiterentwickeln würden, dessen Dynamik so lange entscheidend von dem Siedlermechanismus geprägt war: von der Verfügbarkeit von Land, von einer überwiegend agrarischen Lebensform, von dem Erfordernis, sein Leben selber zu regulieren. Wie schon Thomas Jefferson hundert Jahre vor ihm, sah er die Alternative in düsterem Licht: Menschen, die sich in Städten eng zusammendrängen und dabei ihre Unabhängigkeit verlieren. Städtisches Leben, weit entfernt von jeder «frontier», war weithin ein Synonym für Europa, und Europa ein Synonym für Monarchie und politische Unfreiheit.
Darin steckte immer schon ein gehöriges Maà an romantischer Sehnsucht nach dem Ländlichen, aber zumal zu Turners Zeiten auch
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