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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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viel Realität. Nicht nur in New York und Chicago, sondern auch in den neuen Berliner Mietskasernen oder im Londoner East End hausten damals Hunderttausende Menschen, viele von ihnen Migranten, eng zusammengedrängt unter Bedingungen, die schon zeitgenössische Sozialreformer aufschreien ließen. Die Erklärung war auch deshalb innovativ, weil sie die allzu simple Vorstellung, die Keime der Demokratie seien bereits mit den ersten Siedlern an der Ostküste angelandet, zurückwies. Es war erst das Leben an der Siedlungsgrenze, in Unsicherheit und Gefahr, das eine Mentalität des Individualismus hervorbrachte, deren wichtigster Effekt wiederum die Beförderung der Demokratie gewesen sei. Die Menschen an der «frontier» hätten eine Abneigung gegen jede Kontrolle und Regulierung durch eine übermächtige Regierung entwickelt, den Steuereinnehmer als Boten der Unterdrückung gesehen – und unter sich für Gleichheit und Selbstbestimmung gesorgt.
    Dafür konnte Turner, der selber auf einem westlichen Vorposten lehrte, an der Universität von Wisconsin, eine Reihe guter Indizien anführen. Tatsächlich waren von den westlichen Randgebieten seit dem 18.Jahrhundert immer wieder Impulse für mehr Demokratie ausgegangen.Siedler hatten die traditionelle Machtverteilung kritisiert, die den Eliten in den Küstenregionen unverhältnismäßig viel Einfluss sicherte, und schon vor der Revolution die Ausweitung von Partizipation und mehr egalitäre Mechanismen in der kolonialen Politik erreicht. Im 19.Jahrhundert standen die neu aufgenommenen westlichen Staaten oft an der Spitze bei der Ausweitung des Wahlrechts, zunächst für die weißen Männer, am Ende des 19.Jahrhunderts auch für die Frauen, und um 1900 hatte eine Bewegung für mehr direkte Demokratie ihre Schwerpunkte in westlichen Staaten. Sogar Turners These, das Leben als Pionier an der «frontier» bringe eine besondere individualistische Lebenshaltung hervor, kann man – auch noch mit Blick auf die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft – ein Stück weit Recht geben. Aber hier stößt seine Grenztheorie auch an Grenzen der Erklärungskraft. Denn der Individualismus mag eine wichtige Wurzel von Demokratie sein, ist aber nicht mit ihr identisch, zumal wenn er in eine «anti-soziale Tendenz» und den schon von Turner beschriebenen Hass auf die – demokratische! – Regierung umschlägt.
    Auch andere Siedlergesellschaften wie Australien, Südafrika oder Israel haben die Ursprünge ihrer politischen Lebensform in einer Pionierexistenz gesehen, und sie teilweise zu einem Gründungsmythos überhöht. Nicht in den Blick kam dabei in der Regel eine Grenze, die auch Turner ignorierte: nämlich die zwischen Siedlerbevölkerung, meistens weißen Europäern, und indigener Bevölkerung, auf deren Land die Siedler ihr Leben als Kolonisten begründeten. So war die Kehrseite einer größeren Gleichheit der europäischen Siedler fast immer die umso schärfere Ausgrenzung der Urbevölkerung, wie der nordamerikanischen Indianer oder der australischen Aborigines; aber auch anderer «Rassen» und Ethnien, die als billige Arbeitskräfte dienten wie die Westafrikaner in den USA oder die Inder im britischen Empire. Der amerikanische Westen war gewiss nicht die Kernzone von Sklaverei und Rassismus, aber der Zusammenhang zwischen freien Siedlern einerseits und unfreier Bevölkerung andererseits war hier so eng wie in vielen anderen Fällen. Das konnte bis in das gerade Gegenteil von Demokratie umschlagen, in die physische Segregation, die bürgerliche und politische Entrechtung wie im amerikanischen Süden zwischen 1900 und 1960 oder im Südafrika der Apartheid seit 1948. Eine andere Kehrseite des Siedlerindividualismus ist die oft beschriebene Neigung, das Recht in Formen der spontanen Selbstjustiz in die eigenen Hände zu nehmen. So haben Siedlergesellschaften häufig eine spezifische Kulturder selbstrichtenden Gewalt hervorgebracht, den «Vigilantismus», der nur schwer rechtsstaatlich zu bändigen war.
    An der Geschichte Australiens im 19. Jahrhundert lässt sich die Verbindung zwischen Siedlergesellschaft und Ursprüngen der Demokratie noch am überzeugendsten nachweisen – bei allen Einschränkungen schon hinsichtlich der Verdrängung und teilweise auch politischen Exklusion der Urbevölkerung. Dabei spielte

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