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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Modernität und traditionellen Lebens- und Arbeitsformen kann man sich kaum groß genug vorstellen – aber das war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland so. Während einerseits eine Nation zusammenwuchs, kam andererseits der Stadt-Land-Unterschied auf einen historischen Höhepunkt und schmolz erst seit den 1920er Jahren, unter dem Einfluss von Radio und Automobil, sehr schnell dahin.
    Dynamik, auch: demokratische Dynamik, bestimmte aber schon die Zeit seit der Jahrhundertwende. Das Wahlrecht blieb gleich, aber die Praxis des Wählens und der Wahlkämpfe veränderte sich. Auf dem Lande wurde es für die Gutsherren schwieriger, ihre soziale Autorität in politischen Einfluss an der Wahlurne umzusetzen. In den Städten schwand der Einfluss der «Honoratioren», jener Mitglieder der lokalen Oberschicht, die aus Herkommen, Prestige und Vermögen das politische Wort führten und ihre Parteien geradezu verkörperten. Obwohl für den Reichstag Personen (und keine Parteilisten) zur Wahl standen, löste eine neue Massenpolitik zunehmend die alte Honoratiorenpolitik ab. Vielen Parteien, gerade den Liberalen, bereitete dieser Übergang Schwierigkeiten. Zu den Gewinnern zählten nicht nur neue, oft nationalistisch und antidemokratisch ausgerichtete Massenverbände wie der «Alldeutsche Verband», sondern zuallererst die Freien Gewerkschaften und die SPD, die in kurzer Zeit, zwischen 1890 und 1910, zu Massenorganisationen mit Millionen von Mitgliedern aufstiegen. Bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg, im Januar 1912, erreichte die SPD fast 35 Prozent der Stimmen und war damit klar stärkste Partei; die Wahlbeteiligung war von gut 50 Prozent (1871) auf 85 Prozent gestiegen. Und weit jenseits der engeren Politik veränderten sich ihre Voraussetzungen. Zeitungen und Zeitschriften blühten auf; in ihnen artikulierte sich eine vielstimmige, kritische Öffentlichkeit, die schon sehr an Öffentlichkeiten des späten 20. Jahrhunderts erinnerte, einschließlich der oft widerspruchsvollen Mischung aus Politik, Skandal und Unterhaltung sowie dem hochkulturell-ästhetischen «Feuilleton». In Metropolen wie Berlin ebenso wie in utopischen Kommune-Experimenten auf dem Lande verschwanden alltägliche Hierarchien und wurden neue, avantgardistische oder alternative Lebensformen erprobt.
    Also demokratische Inhalte in einem undemokratischen Staat? Das wäre zu einfach. Denn gerade in der dynamischen Phase vor dem Ersten Weltkrieg tauchten vermehrt neue antidemokratische Züge in Gesellschaft und Kultur auf. Der Aufstieg der Naturwissenschaften begünstigte auch den Rassismus und diente als Hintergrund neuer völkischer Ideologien; auch: eines überheblichen Sendungsbewusstseins, das im Kolonialismus und Imperialismus den deutschen «Platz an der Sonne» suchte. Die Neigung wichtiger Teile des Bildungsbürgertums zur Trennung der hochgeschätzten Kultur von der verachteten Politik ist oft beschrieben worden. Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen» legten davon noch bis in die Weimarer Republik hinein Zeugnis ab. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war viel von einem kulturellen Grundsatzkonflikt zwischen Deutschland und den westlichen Kriegsgegnern Frankreich und England die Rede – heute würde man von einem «clash of civilizations» sprechen. Die deutschen «Ideen von 1914» standen positiv gegen die verachteten, liberal-demokratischen «Ideen von 1789»; die Deutschen hatten vermeintlich eine «Kultur», die der westlichen, bloß rationalen und technischen «Zivilisation» turmhoch überlegen war. In der Schlussphase des Kaiserreichs offenbarte sich auch politisch die tiefe Ambivalenz des vorangegangenen halben Jahrhunderts. In der Mobilisierung aller Kräfte seit 1916, einer Art Vorlauf zum «totalen Krieg», trat die zivile Regierung in den Schatten der De-facto-Militärdiktatur der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff. Aber im letzten Moment gelang dann, in den sogenannten «Oktoberreformen», im Herbst 1918 doch noch, was linke Liberale und Demokraten schon seit 1871 eingeklagt hatten: die «Parlamentarisierung» des Reiches, das heißt der Übergang von der konstitutionellen Regierungsweise zu einer Regierung, die von der Mehrheit des Parlaments abhängig war und aus ihr hervorging. Das ging dann aber

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