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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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staatsrechtliche Rahmen des Kaiserreichs, blieb hinter vielen liberalen und demokratischen Erwartungen zurück. Vor allem die «Verfassungswirklichkeit», also die praktischen Formen der politischen Herrschaft bis 1918, stand einer demokratischen politischen Kultur der freien, pluralistischen Meinungsbildung immer wieder krass entgegen. Der «Kulturkampf» gegen die katholische Kirche am Beginn der 1870er Jahre wurde zwar von vielen Liberalen als Kampf von Aufklärung und Fortschritt gegen finsteres Mittelalter verstanden, enthielt aber unverkennbar autoritär-bürokratische Züge. Kurz darauf geriet die Sozialdemokratie ins Visier der Verfolgung; ihre Organisationen, voran Partei und sozialistische Gewerkschaften, wurden unter dem «Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» zwischen 1878 und 1890 verboten. Nach dem Rücktritt Bismarcks blieben solche repressiven Kampfperioden zwar Vergangenheit, aber eine freiere Gesinnung bildete sich oft nur mühsam heraus. Im Gegenteil, schon die Zeitgenossen haben die wilhelminische Phase des Kaiserreichs, die im Zeichen Wilhelms II. und schwächerer Reichskanzler stand, als Zeit der Obrigkeitshörigkeit und Untertanengesinnung kritisiert, so wie Heinrich Mann in seinem Roman «Der Untertan» im Jahre 1906 die schwächliche Hauptfigur des Diederich Heßling entwarf: politisch unterwürfig und unfrei, aber im eigenen Umfeld, in Familie und Fabrik, autoritär.
    Das war nicht nur ein Problem der Einstellung einzelner Bürger, sondern hatte sich in die Strukturen der Gesellschaft und des Parteiensystems eingefressen. Soziologen wie Ralf Dahrendorf oder M. Rainer Lepsius haben bildreich von den Verkrustungen und «Verwerfungen» in der Gesellschaft des Kaiserreichs gesprochen. Nicht Gleichförmigkeit oder Homogenität, wie sie Diktaturen des 20. Jahrhunderts anstrebten, war das Problem: Denn die Katholiken unterschieden sich ja scharf von den Protestanten, nicht nur am Sonntag vormittag, sondern bis in jede Verästelung des Alltags hinein; die seit 1890 rasch expandierende Welt der Sozialdemokratie schuf beinahe einen kompletten Gegenentwurf zur liberal-konservativen bürgerlichen Welt. Diese Unterschiedlichkeit aber war kein Ausdruck freier Pluralität, sondern sie schuf zementierte Segmente von Gesellschaft, Kultur und politischen Einstellungen; sie schottete verschiedene «Milieus» voneinander ab, die sich bestenfalls nichts zu sagen hatten.
    Doch in diesem Bild, gar in einem Verdikt über «strukturelle Demokratiefeindschaft» (Wehler) geht die politische Wirklichkeit des Kaiserreichs nicht auf. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Forschung kompliziertere Mischungen zu Tage gefördert und demokratische Potentiale entdeckt, insgesamt auch einen Trend zur Öffnung und Demokratisierung im Übergang in das 20. Jahrhundert. Im internationalen Vergleich war noch nicht einmal die Verfassung von 1871 allzu rückständig, gewiss nicht das Wahlrecht. Vor allem darf man sich das Kaiserreich nicht als einen allzu einheitlichen Block vorstellen, in dem Bismarck oder Wilhelm II. Politik und Alltag in einer württembergischen Kleinstadt oder im schlesischen Industrierevier in ihrem autoritären Griff gehabt hätten. Der neue Nationalstaat wurde erst ganz allmählich zu einer «Nation» gemeinsamer Traditionen und Zukunftsentwürfe. Der föderale Aufbau des Reiches ließ den Einzelstaaten, in Preußen auch den Provinzen wie dem Rheinland oder Ostpreußen, viel Raum, auch dort, wo – wie im Rheinland oder in Südwestdeutschland – liberale und demokratische Traditionen lebendig waren. Unterhalb der Staaten und Provinzen genossen die Städte und Gemeinden ein hohes Maß an Selbstverwaltung. So boten die Kommunen Raum für Partizipation; die liberalen Parteien und selbstbewusste Bürger spielten in ihnen eine viel wichtigere Rolle als in der Politik des Reiches. Waren es am Anfang des 19. Jahrhunderts eher kleine und mittlere Städte, die als Treibhaus der Demokratie wirkten, traten in der Zeit des Kaiserreichs die Großstädte immer mehr in den Vordergrund. In ihnen überlagertensich liberaler Bürgergeist, eine wachsende Sozialdemokratie und die Freiheitsspielräume der modernen Welt von technischer Kommunikation und Massenmedien. Gewiss, die Spannweite zwischen Großstadt und Provinz, zwischen radikaler

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