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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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möglicherweise sogar eine andere Form der Unfreiheit eine wichtige Rolle, waren viele der europäischen «Siedler» doch Strafgefangene aus England, Männer und Frauen, die seit dem späten 18.Jahrhundert bis in die 1840er Jahre in die Kolonie New South Wales deportiert wurden. Das Regime dieser Strafkolonien ließ den Gefangenen durchaus Freiheiten – mehr vermutlich als sie in einem europäischen Gefängnis besessen hätten – und machte von ihren individuellen Fähigkeiten und beruflichen Fertigkeiten Gebrauch. Gerade die Gefangenengesellschaft hat deshalb, so argumentieren manche Historiker, in der Mitte des 19. Jahrhunderts die rasche und erfolgreiche Etablierung demokratischer Institutionen in New South Wales, der mit Abstand wichtigsten Provinz Australiens, befördert. Auch das Goldfieber, das um die Jahrhundertmitte, parallel zum kalifornischen Goldrausch, Australien erfasste und neue europäische Glückssucher und Siedler ins Land brachte, verstärkte die egalitären und demokratischen Tendenzen.
    In der zweiten Hälfte der 1850er Jahre gewährte die britische Krone den australischen Kolonien, voran New South Wales, als «responsible government» eine repräsentative Verfassung mit einer parlamentarischen Zweiten Kammer, die auf der Grundlage eines sehr breiten Männerwahlrechts stand; in einigen Kolonien fielen schon jegliche Zensusschranken. An der kolonialen Peripherie konnten sich die demokratischen Forderungen leichter durchsetzen, um die sich zu dieser Zeit in England selber die Reformbewegung der Chartisten vergeblich bemühte. Von hier nahm auch eine Neuerung ihren Anfang, die als «Australian ballot», als australische Stimmabgabe also, bekannt wurde und heute ebenso selbstverständlich wie unverzichtbar scheint: nämlich die geheime Wahl mit offiziell vorgedruckten, einheitlichen Stimmzetteln. Bis dahin hatten die Wähler nämlich die Namen der Kandidaten selber aufschreiben müssen, oder sie erhielten von den Parteien vorbereitete Zettel, so dass man leicht erkennen konnte, wer das Papier einer bestimmten Partei oder eines bestimmten Kandidaten in die Urne steckte (siehe IV. 5.). Eine selbstbewusste und aktive Frauenbewegung erstrittschon früh das Stimmrecht für die Frauen, das zwischen 1894 und 1908 in allen einzelnen Kolonien und für das nationale Parlament – Australien war seit 1901 ein Bundesstaat unter britischer Oberhoheit – eingeführt wurde. Am schlechtesten stand es um die Aborigines, die am Anfang des 20.Jahrhunderts zwar formell über das Wahlrecht verfügten (und «britische Bürger» waren), aber de facto noch viele Jahrzehnte aus der Demokratie der weißen Siedler und ihrer Nachfahren ausgeschlossen blieben.
    Dem australischen (und US-amerikanischen) Muster lassen sich jedoch viele Fälle gegenüberstellen, in denen die Gleichung der Siedlerdemokratie noch weniger aufging oder das Regime der Kolonisten sogar in besonders brutale Segregation, Unterdrückung oder Verfolgung mündete. Die südamerikanische Erfahrung ist ambivalent: Auf einen starken Republikanismus und die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien im frühen 19. Jahrhundert folgten lange Phasen der Instabilität und autoritärer Regime unter der Führung von «Caudillos» oder Militärjunten, bis ins späte 20.Jahrhundert. Argentinien oder Chile sind typische Beispiele dafür. Kolonisationsversuche und Siedlerpioniere spielten auch in der russischen Geschichte immer wieder eine Rolle, in der Ansiedlung von Deutschen an der Wolga im späten 18. Jahrhundert oder in der Erschließung Sibiriens im 19. Jahrhundert. Hier nährte die Siedlergesellschaft aber keinen regierungsfernen Individualismus wie im amerikanischen Westen, sondern stand unter Aufsicht eines autoritär-zentralistischen Staates. Von Südafrika war schon die Rede, wo das Selbstbewusstsein der europäischen Siedler – der Briten und der überwiegend niederländischen Buren – früh in ein System der Selbstregierung führte, das aber von Anfang an auf rassischer Ungleichheit (mit dem Ausschluss der Nichtweißen vom Wahlrecht) beruhte und im Verlauf des 20. Jahrhunderts, besonders seit 1948, zur Apartheid ausgebaut wurde. Das von den Nationalsozialisten erstrebte Herrenmenschenreich der «Ostsiedlung» schließlich ist, einschließlich seines Vollzugs im Zweiten Weltkrieg, das

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