Was ist Demokratie
Radikalismus, die Marxsche Kapitalismusanalyse und Revolutionserwartung, und der Lassallesche Akzent auf den Kampf um Repräsentation der Arbeiter in gleicher Freiheit mit den übrigen Staatsbürgern. Als sich 1875 in Gotha der ADAV mit der «Sozialdemokratischen Arbeiterpartei» August Bebels und Wilhelm Liebknechts zusammenschloss, erklärte die Präambel des neuen Programms zunächst die vermeintlichen GesetzmäÃigkeiten von Ãkonomie und Geschichte, die in eine Abschaffung von Kapitalismus und Lohnarbeit münden müssten. Bis es soweit sei, sollten aber schon einmal, mit Hilfe des Staates, Produktivgenossenschaften gegründet und das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht eingeführt werden, ergänzt um Presse- und Versammlungsfreiheit, die allgemeine Schulpflicht und konkrete Arbeitsschutzgesetze.
Nach dem Auslaufen der Sozialistengesetze nannte sich die wieder in die Legalität zurückkehrende Partei «Sozialdemokratische Partei Deutschlands» und gab sich 1891 ein neues, das Erfurter Programm. Die marxistische Diagnose nahm jetzt einen breiteren Raum ein; in ihr ging es um den «Kampf der Arbeiterklasse», die «in den Besitz der politischen Macht» kommen müsse; wie diese Macht ausgeübt werden sollte und ob das den Entzug politischer Rechte für diejenigen bedeuten könnte, die nicht der Arbeiterklasse angehörten, blieb bewusst diffus. Darauf aber folgte ein klassischer Katalog der repräsentativen Demokratie auf egalitärer Grundlage: allgemeines und gleiches Wahlrecht, nun auch für die Frauen; Verhältniswahlrecht; kurze, zweijährige Legislaturen, ergänzt um plebiszitäre Elemente der direkten Gesetzgebung durch Volksabstimmungen.
Schon bald danach brachen die heftigen Konflikte zwischen den «Revisionisten» um Eduard Bernstein und dem revolutionär-marxistischenFlügel der Partei um Karl Kautsky auf. Wofür noch Revolution, fragten die Revisionisten, wenn man eine egalitäre Demokratie erreichen konnte und auf dem Weg dorthin bereits stärkste Partei im Reich geworden war? Und welche politische Ordnung, welches konkrete System der Demokratie sollte nach einer Revolution denn etabliert werden, das dem egalitären, parlamentarisch-plebiszitären Mischmodell des Erfurter Programms überlegen wäre und gewonnene Freiheiten nicht sogar wieder aufs Spiel setzte? Diese Alternative, diese Weggabelung bestimmte die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert mindestens ebenso entscheidend wie ihre viel diskutierte organisatorische Trennung von der «bürgerlichen» Demokratie, die sich als linker Flügel des Liberalismus parteipolitisch formierte. Eine Zeitlang konnte die aufbrechende Kluft durch eine utopische Projektion vom «Zukunftsstaat» überbrückt werden, so dass man pragmatische Demokratie betreiben konnte, ohne die weitergehenden Ziele ganz aufzugeben, aber auch ohne sie in revolutionärer Praxis erkämpfen zu müssen. Genau das aber erstrebte die Parteilinke mit ihrem Konzept des «politischen Massenstreiks» schon im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf sich der demokratische und der revolutionäre Flügel der SPD auch organisatorisch trennten.
Doch wird man dem Demokratieverständnis der frühen Sozialdemokratie nicht gerecht, wenn man es nur an den groÃen programmatischen Auseinandersetzungen misst. An der Basis, in der alltäglichen politischen Arbeit ging es oft um viel konkretere Probleme, auch in der Kommunalpolitik der groÃen Städte, in die die SPD trotz des sie krass benachteiligenden ungleichen Wahlrechts allmählich eindrang. Nicht zuletzt war Demokratie, wie in keiner anderen Partei oder Bewegung des 19. Jahrhunderts, ein entscheidendes Prinzip der eigenen inneren Organisation. Man erkennt das auch daran, dass anfangs zwischen den «Statuten» der Partei und dem «Programm» kaum ein Unterschied bestand; Diskussion und Meinungsbildung untereinander waren ein Experimentierfeld für die gröÃere, staatliche Demokratie. So spielten, in der Tradition von Vormärz und 1848er Revolution, Volksversammlungen eine wichtige Rolle und waren Ausdruck einer besonderen Emphase für direkte Demokratie. Manchmal verband sich das, wie bei dem Königsberger Johann Jacoby, mit einer scharfen und grundsätzlichen Kritik an Parlament und Repräsentation. Doch verwarf Jacoby, der erst spät vom
Weitere Kostenlose Bücher