Was ist Demokratie
Justiz, nach starken parlamentarischen Rechten oder Volksbewaffnung trat damit der Anspruch auf sozialen Ausgleich und auf die Teilhabe der Arbeiterschaft an Fortschritt und Freiheit, wofür Bildung einen Schlüssel darstellte.
In diesem Sinne eines Bewegungsprogramms trug auch die von Karl Marx während der Revolution in Köln herausgegebene «Neue Rheinische Zeitung» den Untertitel «Organ der Demokratie». Für Marx ebenso wie für seinen Mitstreiter, den Elberfelder Fabrikantensohn Friedrich Engels, war damit die radikale Bewegung gemeint, für die er schon damals den Begriff «Kommunismus» verwendete, nicht aber ein wie auch immer definiertes System der Volksherrschaft, das sich in einem Geflecht aus Rechten und Institutionen konstituierte. Man kann sogar sagen, dass der Begriff der Demokratie im Werk von Marx und Engels eine regelrechte Leerstelle bildet. Es ging ihnen um die Analyseder ökonomischen und sozialen Verhältnisse und der existenziellen Situation des Einzelnen darin; die Frage der politischen Verfassung war bestenfalls eine abhängige Variable und taucht in zentralen Schriften überhaupt nicht auf. Das «Manifest der Kommunistischen Partei» von 1848 spricht bloà von «Klassen, die sich die Herrschaft eroberten» wie zuletzt die Bourgeoisie und in naher Zukunft das Proletariat. Ob damit nur die alles bestimmende Verteilung der Produktionsmittel gemeint ist oder auch eine politische Regulierung von Herrschaft â und wenn ja, in welchen Formen â, bleibt mehr als vage.
Zum Teil steht hinter dieser Leerstelle das Erbe der Hegelschen Philosophie mit ihrer Konzentration auf den «Staat» statt auf konkrete Regierungsformen. Tatsächlich kann man, weit über Marx und den Marxismus hinaus, die Vernachlässigung der Demokratie als eine gravierende Schwäche deutscher Staats- und Herrschaftstheorien bis ins 20. Jahrhundert hinein sehen. Auf der extremen Linken ebenso wie auf der Rechten ging es allzu oft um den Staat statt um die Demokratie. Sogar die liberale Herrschaftssoziologie Max Webers, der oft als ein bürgerlicher Gegen-Marx gesehen wird, legt davon Zeugnis ab, indem Demokratie und Volkssouveränität sich bei ihm hinter der formalen Fassade «rationaler» oder «legitimer» Herrschaft verstecken. Für Marx selber sollte das Proletariat «herrschen» â und im Zweifelsfall nicht im Rahmen der «bürgerlichen» Institutionen wie des Parlamentarismus, denen er oft genug mit Zynismus und kalter Verachtung begegnete; aber wie dann? Letztlich würde sich, wenn die romantisch-utopische Hälfte von Marx die Oberhand gewann, das Problem in der Abschaffung jeglicher Herrschaft, im Verschwinden des Staates von selber erledigen.
Nicht Marx bestimmte jedoch zuvörderst, was (soziale) Demokratie für die frühe deutsche Arbeiterbewegung hieÃ. Einen ganz anderen Akzent setzte Ferdinand Lassalle mit seinem 1863 gegründeten «Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein» (ADAV). Lassalle kehrte die Marxsche Logik geradezu um: Nicht die ökonomische Befreiung des Proletariats in der naturnotwendig eintretenden Revolution stand an erster Stelle, aus der auch die politische Freiheit (wie immer sie aussehen sollte) folgte. Zunächst mussten vielmehr die Arbeiter politisch emanzipiert, zu vollberechtigten Staatsbürgern werden, dann würden sie auch ihre ökonomische Stellung verbessern und ihre sozialen Rechte erstreiten können. Für Lassalle war die Sozialdemokratie â so wie übrigens hundert Jahre später auch für Willy Brandt â eine Freiheits-,nicht primär eine Gleichheitsbewegung, und eine revolutionäre schon gar nicht. Die wichtigste Forderung, mit der die ADAV-Statuten denn auch begannen, war das «allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht». Wenn die Interessen der Arbeiter im Parlament vertreten würden, könne auch «eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt» werden. Freilich färbte ein unerschütterliches Staatsvertrauen die Ãberzeugungen Lassalles, das unverkennbar ebenfalls durch die Schule Hegels gegangen war.
In der Geschichte der Sozialdemokratie während der Zeit des Kaiserreichs überlagerten sich die drei Traditionen auf komplizierte und zur Jahrhundertwende zunehmend spannungsreiche Weise: die Forderung nach sozialen Rechten aus der Tradition des vormärzlichen
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