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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Überlappung zwischen Sozialstaat und Demokratie. Die Weimarer Republik führte die Sozialpolitik des Kaiserreichs nicht nur fort und baute sie aus – etwa mit der Einführung der Arbeitslosenversicherung 1927. Sie trug auch wesentlich dazu bei, dem deutschen Sozialstaat eine neue, demokratisch-reformerische Identität zu geben. Nicht zufällig zerbrach ihre letzte parlamentarische Regierung, eine von dem SPD-Politiker Hermann Müller geführte Große Koalition, im März 1930 an einem Streit über die Arbeitslosenversicherung. Die Weltwirtschaftskrise hatte da gerade erst begonnen. Ihre sozialen Folgen in Massenarbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Obdachlosigkeit wurden außerhalb Deutschlands als eine neue Bewährungsprobe der Demokratie verstanden. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt sah in seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik des «New Deal» seit 1933, zumal im Angesicht der europäischen Diktaturen, den Test auf die Leistungsfähigkeit der Demokratie: «to achieve an economic freedom for the average man which will give his political freedom reality», wie er am 6. September 1936 im Radio versprach.
    Der unmittelbare Konkurrent waren die Nationalsozialisten, die im «Dritten Reich» sozialpolitische Leistungen für die «Volksgenossen» ausbauten. Sie sorgten teils sogar für mehr Gleichheit (zum Beispiel zwischen Arbeitern und Angestellten) und suchten in der «Volkswohlfahrt» oder der Organisation «Kraft durch Freude» neue Wege der Verbindung von Sozialpolitik und Massenkonsum, ähnlich wie die italienischen Faschisten im «Dopolavoro», dem Freizeitwerk für die Zeit «nach der Arbeit». Dem Rooseveltschen Maßstab der Freiheit konnte das kaum entsprechen, zumal als in Deutschland seit dem Ende der1930er Jahre der Ausschluss von Juden und anderen «Gemeinschaftsfremden» aus der sozialpolitischen Volksgemeinschaft immer offensichtlicher und brutaler wurde. Soziale Leistungen und Loyalität der Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges beruhten zwar nicht entscheidend auf der unmittelbaren rassischen Umverteilung in Folge der Enteignung und Ausplünderung der europäischen Juden. Aber der Zusammenhang zwischen Fürsorge und Vernichtung war evident, und auch das prägte das Bewusstsein der Nachkriegszeit, dass ein Sozialstaat nicht auf Exklusion gegründet sein konnte.
    So verliefen Wiederherstellung und Ausbau der Demokratie nach 1945 parallel und in enger Wechselwirkung mit einem historisch beispiellosen Ausbau des Sozialstaates im «goldenen Zeitalter» der Nachkriegsprosperität. Aber der soziale Ausbau war nicht erst eine Folge, eine Art Wohlstandsdividende des wirtschaftlichen Wachstums, in der Bundesrepublik des «Wirtschaftswunders». Er begann oft als eine moralisch-politische Vorleistung, weil in weiten Teilen Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Stunde für einen humanen, demokratischen Sozialismus gekommen schien. In Großbritannien setzte die Labour-Regierung von Premierminister Clement Attlee weitreichende Reformen, unter anderem mit einer Verstaatlichung des Gesundheitswesens, durch. Frankreich und die skandinavischen Staaten folgten nach. In der Mitte der 1960er Jahre unternahmen sogar die Vereinigten Staaten mit umfangreichen Programmen der medizinischen und sozialen Sicherung von Rentnern, Armen und Behinderten Schritte hin zu einer neuen «Great Society».
    In der Bundesrepublik setzte die CDU-geführte Regierung Konrad Adenauers den deutschen Pfad des Sozialstaats fort, oft allerdings im Konsens mit der SPD. Als geradezu revolutionär erwies sich die Rentenreform von 1957, nicht nur was den Anstieg der bis dahin oft armseligen Leistungen betraf, sondern auch in psychologischer Hinsicht: Mit vielen weiteren, bis mindestens in die 70er Jahre reichenden Maßnahmen trug sie nicht unwesentlich dazu bei, die Westdeutschen innerlich an die Demokratie heranzuführen. Der Sozialstaat war also nicht nur Ergebnis der Demokratie, sondern auch umgekehrt: Seine Leistungen halfen die Zustimmung, die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger zur Demokratie zu sichern. Die Kehrseite dieser Prägung konnte aber sein, dass ein Abbau oder Umbau von Sozialleistungen das Vertrauen in die demokratische Regierungsform erschüttert – ein Zusammenhang, den man in anderen demokratischen Ländern so gar nichtverstehen würde. In dieser

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