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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Bürger zu sorgen. Dabei spielten Stiftungen und Unterstützungswerke teils kommunaler, teils aber auch kirchlicher Natur eine wichtige Rolle. Damit ist ein dritter Ursprung des deutschen Sozialstaates bezeichnet, der mit dem erheblichen Gewicht von evangelischer Diakonie und katholischer Caritas ebenfalls bis in die Gegenwart fortwirkt.
    Vom Sozial-«Staat» aber würden wir kaum ohne die von Bismarck betriebene Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches in den 1880er Jahren sprechen. Damals entstanden die Vorläufer der heutigen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, auch wenn ihre Reichweite und ihre Leistungen in den ersten Jahrzehnten noch sehr begrenzt blieben. Aber die Grundidee eines quasi-öffentlichen Versicherungsprinzips – einer Lösung zwischen privater Versicherung am Markt und unmittelbarstaatlichen Leistungen also – hat sich bis heute erhalten, ebenso wie die gemischte Finanzierung aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen. Das erste Bismarcksche Bündel richtete sich auf Arbeiter, vor allem städtische Industriearbeiter, nicht unbedingt weil sie die größte Not litten, sondern weil es das bewusste Kalkül des ersten Reichskanzlers war, mit dem «Zuckerbrot» der Sozialpolitik (parallel zur «Peitsche» der Sozialistengesetze) die vermeintlich umstürzlerischen Bestrebungen der Sozialdemokratie einzudämmen und so die Arbeiter für den monarchischen Obrigkeitsstaat zu gewinnen.
    Dieser geradezu antidemokratische Ursprung schmälert nicht die Leistungen der Sozialversicherung, in die zudem auch andere, weniger obrigkeitliche Traditionen einflossen wie diejenige der «Knappschaftskassen» im Bergbau mit ihrem seit jeher höheren Anteil der Selbstverwaltung. Aber im internationalen Vergleich begab sich Deutschland damit auf einen Pfad, der heute häufig als die «konservative» Variante des modernen Sozialstaates bezeichnet wird. Sie dominierte in Mitteleuropa, während angelsächsische Länder, nicht zuletzt die USA, eher ein liberales Marktmodell bevorzugten und Skandinavien mit dem egalitär-sozialdemokratischen Sozialstaat ein drittes Modell hervorgebracht hat. Dabei meint konservativ weniger eine politische Richtung als die «konservierenden» Mechanismen der Sozialpolitik. Danach ist es Aufgabe des Sozialstaates, Menschen in Krisensituationen und Notlagen, auch im Übergang in den Ruhestand, in ihrem bisherigen sozialen Status zu sichern. Für einen gutverdienenden Angestellten bedeutet das höhere Leistungen als für eine ungelernte Arbeiterin. Das ist weniger demokratisch aber nur dann, wenn man größtmögliche (soziale) Gleichheit als Ziel und Merkmal von Demokratie versteht. Der deutsche Sozialstaat hat überdies traditionell die Männer – vor allem als «männliche Familienernährer» – bevorzugt und Geschlechterunterschiede eher befestigt, während anderswo Frauen und Mütter eher den archimedischen Punkt des Sozialstaates bilden, etwa in Frankreich, aber auch in den USA, wo die Sicherung gegen Armut seit dem frühen 20. Jahrhundert primär alleinerziehende Mütter im Blick hat.
    Noch in den Jahrzehnten um 1900 trieb also nicht primär die Demokratisierung den Sozialstaat voran. Der Ausbau sozialer Leistungen stand im Kontext einer allgemeinen Ausweitung der Staatstätigkeit, einer sprunghaft zunehmenden Tendenz zur Regulierung von Gesellschaft und Wirtschaft nach dem klassisch-liberalen, dem «manchester-liberalen» Zeitalter des Kapitalismus. Deshalb spricht man imDeutschen auch öfters vom «Sozial- und Interventionsstaat». Denn wichtige Felder dieser Regulierung und Intervention lassen sich, mindestens in einem weiteren Sinne des Begriffes, der Expansion des Sozialstaates zurechnen: so das staatliche Engagement in der allgemeinen und höheren Bildung oder die seit 1900 dichter gewebten Vorschriften des Arbeitsschutzes und der Wettbewerbsregulierung. Ein anderer Katalysator des Sozialstaates war immer wieder der Krieg, angefangen vom amerikanischen Bürgerkrieg über den Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Veteranen und Kriegsinvaliden, aber auch Hinterbliebene von Gefallenen, besonders deren Witwen, konnten einen hohen moralisch-politischen Anspruch auf staatliche Versorgung geltend machen, die dann nicht selten zum Modell allgemeiner sozialer Leistungen geworden ist.
    In der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre wuchs die

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