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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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entstehen. Sie sollten dem vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson heftig verfochtenen Selbstbestimmungsrecht der Völker folgen – aber was hieß das angesichts der Mischungen und Überlagerungen verschiedener Völker und Sprachgruppen? So entstanden Nationalstaaten, in denen neben der namengebenden und Mehrheits-«Nation» zugleich Minderheiten lebten und um ihre Rechte fürchteten. Ungarn ist das wichtigste Beispiel dafür. Aber es entstanden auch multinationale Staaten wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien, in denen die ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen sich miteinander arrangieren mussten – und das auch noch, wenn möglich, in einer Demokratie.
    Die Rede vom «Selbstbestimmungsrecht der Völker» war mehrdeutig, aber mindestens in der amerikanischen Perspektive meinte es niemals nur die äußere Unabhängigkeit bisher in Großreichen unterdrückter, jedenfalls nicht staatlich selbstständiger Minderheiten. Es schloss eine innere Selbstbestimmung ein, also eine demokratische Regierung oder, pointierter, das Prinzip der Volkssouveränität. Mit der bekannten Formel «to make the world safe for democracy» hatte Wilson 1917 den Kriegseintritt der USA gegen Deutschland begründet. Seitdem waren Kriegführung und Politik der Vereinigten Staaten, die damit aus einer langen und selbstgewählten Beschränkung auf die «westliche Hemisphäre» hinaustraten, nicht nur auf Befriedung aus, sondern folgten einer moralisch getönten Mission, in dem selbstzerstörerischen Kontinent auch innere Freiheiten dauerhaft zu verankern.
    In den «Vierzehn Punkten», die Wilson am 8. Januar 1918 dem amerikanischen Kongress präsentierte, war dieses Programm bündig, und teilweise schon bis in Einzelregelungen für Länder wie Polen und Serbien, formuliert. Demokratie war hier kein expliziter Begriff, in dem Ruf nach Selbstbestimmung aber erkennbar eingeschlossen: Wenn den Völkern Österreich-Ungarns die «freieste Möglichkeit der unabhängigen Entwicklung» gegeben werden sollte, konnte damit aus amerikanischer Sicht eine neue Autokratie nicht gemeint sein. Man hat diese Ziele Wilsons oft als allzu idealistisch belächelt, gerade aus einer europäischen Stabilitätsperspektive, die immer noch in den Kategorien des Westfälischen Friedens von 1648 operierte: Balance und Nichteinmischung.Aber zum einen verfolgten die USA mit ihrer Politik der Freiheit und Demokratisierung sehr wohl strategische Interessen – der freie Handel stand in den Vierzehn Punkten weit vorne. Zum anderen legte diese Politik wichtige Grundlagen für die globale Moralpolitik von Menschenrechten, Selbstbestimmung und Demokratie, die seit den 1960er Jahren ihren Siegeszug angetreten hat; dann häufig eher von Nichtregierungsorganisationen als von Staaten befördert.
    Deshalb sollte man die Absichten dieser Demokratisierungspolitik nicht geringschätzen, auch nicht ihre Wirkungen, obwohl die Vierzehn Punkte in den Friedensverträgen von 1919/20 nur indirekt angewendet wurden. Als Teil des Friedensschlusses entstand immerhin der Völkerbund mit seinem Sitz in Genf als Organ der internationalen Verständigung und Konfliktschlichtung, dem die USA ironischerweise aber nie angehörten (und Deutschland nur zwischen 1926 und 1933). Vor allem aber trafen die Absichten der Selbstbestimmung und Demokratisierung immer wieder auf turbulentes Terrain. In der Phase zwischen 1917 und 1920, häufig sogar bis 1923 herrschte an vielen Stellen Europas Revolution und Bürgerkrieg, mindestens aber ein extrem hohes Maß an innerer Gewalt: in Berlin ebenso wie in Norditalien, in Katalonien ebenso wie in Polen. Der Weltkrieg hatte eine Kultur der Gewalt und einen zur Gewalthaftigkeit neigenden Männlichkeitsmythos in die zivile Gesellschaft getragen, in der sich autoritäre Unternehmer und syndikalistische Arbeiter, Faschisten und Sozialisten, oder die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen blutig bekämpften. Unter dieser Voraussetzung war es schon bemerkenswert, wie weit die Demokratisierung Nachkriegseuropas überhaupt vorankam. Doch erwiesen sich die meisten der neuen Demokratien nicht als stabil und wurden manchmal schon nach wenigen Jahren, spätestens in der Mitte der 1930er Jahre von autoritären und faschistischen Regimen der extremen Rechten abgelöst. Nur Nordwesteuropa – Frankreich,

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