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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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verloren, obwohl der italienische Faschismus kein dem deutschen Nationalsozialismus vergleichbares Regiment der Unterdrückung und Verfolgung aufbaute. Aber dem eigenen, emphatischen Anspruch nach sollte der neue Staat sehr wohl allumfassend sein; neben ihm durften «keine menschlichen oder spirituellen Werte bestehen». So drückte es die von Giovanni Gentile verfasste, aber Mussolini zugeschriebene «Doktrin des Faschismus» 1932 offiziös in der «Encyclopedia Italiana» aus. So verstanden, sei der Faschismus «totalitär», und der faschistische Staat der Herrscher über das gesamte Leben des Volkes. Er richtete sich gegen den Liberalismus ebenso wie gegen den Sozialismus – überhaupt gegen jene Bewegungen, die das 19. Jahrhundert geprägt hatten, aber nun ein Auslaufmodell darstellten. Wenn das 19. Jahrhundert das Zeitalter von Sozialismus, Liberalismus und Demokratie war, hieß das – so fuhr der Lexikonartikel fort – noch lange nicht, dass auch das 20. Jahrhundert diesen Doktrinen folgen müsse. Auch hier also erschien die Demokratiefeindschaft im Gewand vermeintlich plausibler Historisierung. Das neue Jahrhundert gehöre nicht mehr dem Individuum, sondern dem Kollektiv und dem Staat.
    Die politische Situation Europas nach dem Ersten Weltkrieg war also paradox. Einerseits schlug die Stunde der Demokratie – nicht so sehr im alltäglichen Denken und Handeln, auch nicht in den Theorien und bei den Wissenschaftlern, wohl aber in den Institutionen, im erstmaligen Übergang weiter Teile des zuvor monarchisch-autokratisch, bestenfalls konstitutionell regierten Kontinents. Es wäre falsch, diese Errungenschaft gering zu schätzen, sie zur uneinlösbaren Phantasie eines übertriebenen Idealismus zu erklären und sie damit von vornherein für gescheitert zu halten. Und trotz des Engagements der Amerikaner waren die neuen Demokratien ja zuallererst ein Produkt eines langen politischen Kampfes von fortschrittlichen Liberalen, Sozialdemokraten und demokratischen Nationalbewegungen, die ihren schließlichen Erfolg sehr wohl zu schätzen wussten und aufs Ganze gesehen auch, wie die demokratischen Parteien in der Weimarer Republik, klug mit ihm umgingen. Deshalb ist dem Urteil des amerikanischen Historikers MarkMazower, die Demokratie habe im Europa der Zwischenkriegszeit nur flach gewurzelt, nicht ohne weiteres zuzustimmen. Aber es ist richtig, dass diese Wurzeln kaum neue Nahrung fanden. Bleibt man in diesem Bild, ist die Pflanze der Demokratie dennoch nicht zuerst verkümmert, sondern ausgerissen worden.
4 Russland:
Von der Rätedemokratie zur Diktatur Stalins
    Am östlichen Rand Europas beschritt Russland in der Zwischenkriegszeit einen eigenen Weg, der die Geschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert, aus welcher Perspektive auch immer man blickt, tiefgreifend beeinflusste: ob als Projekt der Realisierung wahrer Demokratie oder als Schreckbild ihrer Abschaffung in einer brutalen Diktatur; als Faszination einer neuen, dem westlichen Kapitalismus überlegenen Moderne oder als Bindemittel eines liberalen Antikommunismus. Im rückständigen, autokratisch regierten Zarenreich stand zunächst eine Öffnung zum parlamentarischen Verfassungsstaat, zur halbwegs offenen, pluralen Gesellschaft auf der Tagesordnung. Insofern konnten die Revolution von 1905 und die Februarrevolution von 1917, inmitten der äußeren und inneren Krise des Ersten Weltkriegs, für niemanden überraschend kommen. Aber das liberal-parlamentarische System vermochte sich im Sommer 1917 nicht zu stabilisieren. Es stand unter dem Druck einer revolutionär gesinnten Arbeiterbewegung in den großen Städten – und einer ländlichen Gesellschaft, die mit den liberalen Versprechen wenig anfangen konnte, auch wenn sie mehrheitlich nicht den sozialistischen Parteien, sondern der «Partei der Sozialrevolutionäre» folgte, die sich auf russisches Volkstum statt auf westliche Tradition berief. Die 1905 erstmals entstandenen Räte schufen ein institutionelles Gegengewicht zum Parlamentarismus, das Lenin als Führer der Bolschewisten in brillanter Weise für das Weitertreiben der Revolution in eine sozialistische Phase ausnutzte.
    Mit der Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution stellte sich die Frage, was das für die Entwicklung der Demokratie bedeuten würde. Auch anderswo in Europa, nicht zuletzt in Deutschland,

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