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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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aristokratischen und demokratischen Elementen. Diese Idee entfaltete in der Neuzeit, bis in das 20. Jahrhundert hinein, eine lange Wirkungsgeschichte.
    Trotz dieser sehr praktischen Weise der «Erfindung» von Demokratie, die weithin ohne theoretisches Vordenken auskam und sich über viele experimentelle Etappen mit ungewissem Ausgang vollzog: Die Athener entwickelten zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass ihre Form der Politik eine besondere, eine ungewöhnliche, vielleicht sogar eine einzigartige war. Der Geschichtsschreiber Thukydides ließ den athenischen Führer Perikles in seiner großen Darstellung des Peloponnesischen Krieges, also der Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta, eine Totenrede halten, in der dieses Sonderbewusstsein besonders klar formuliert ist: «Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft» – also Demokratie. Obwohl Thukydides die Vorbildfunktion der athenischen Verfassung ausdrücklich erwähnte, fehlte ihr trotz des Bewusstseins für die Andersartigkeit in der damaligen politischen Umwelt Griechenlands und des östlichen Mittelmeerraums jenesSendungsbewusstsein, das die moderne Demokratie oft kennzeichnet. Der Gedanke, dass «ihre» Demokratie, weil sie anderen Ordnungen überlegen war, zu einer universellen werden müsse, war den Athenern fremd.
    Moderne Historiker haben, auch in jüngerer Zeit, die Besonderheit Athens oft noch viel schärfer hervorgehoben, als sie den Mitlebenden klar sein konnte. Christian Meier spricht von einem «Neubeginn der Weltgeschichte», von einer «politischen Revolution der Weltgeschichte» und einem «griechischen Sonderweg» der Polisgesellschaften auf dem Weg zur erstmaligen Realisierung von Demokratie. Vielleicht noch wichtiger und folgenreicher sei es gewesen, dass die Athener ein neuartiges Verständnis von «Politik» entwickelten. Politik war danach nicht mehr mit einem faktischen System von Herrschaft identisch; sie trat aus der Normalität, aus der scheinbaren Natürlichkeit der Lebensverhältnisse heraus und etablierte sich als eine eigene Sphäre, in der man sprechen, debattieren und entscheiden konnte. Nicht so sehr im Sinne von Institutionen oder organisierter Verfasstheit – der griechische Begriff von Politik meinte nicht Staatlichkeit im modernen Sinne. Was die Griechen entdeckten war, in den Worten des großen englischen Althistorikers Moses Finley, die «Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion herbeizuführen und diesen Entscheidungen dann auch zu folgen, als notwendige Bedingung einer zivilisierten Lebensführung».
    Diese Besonderheit verwirklichte sich in Institutionen wie der Volksversammlung, aber sie gründete vor allem in einem Bild vom Menschen – damals noch: dem männlichen Vollbürger –, der prinzipiell, unabhängig von Herkunft, Vermögen oder sozialer Stellung, politische Urteilskraft besitze. Das meinte auch die berühmte Formel des Aristoteles vom Menschen als einem «zoon politikon», einem politischen Lebewesen. Umgekehrt ließ sich die Demokratie nicht auf die enge politische Sphäre des Regierens und Entscheidens begrenzen. Sie wirkte in weite Bereiche der Kultur und alltäglichen Lebensführung hinein, in die Erziehung, den Sport im «Gymnasium», in das Theater. Darin gründete eine Spannung, die im modernen Verständnis der Demokratie teilweise bis heute umstritten bleibt: Ist die Demokratie ein Privileg der Politik, mit der die freie und gleiche Selbstregierung gerade aus anderen Formen der Lebenspraxis herausgehoben wird? Oder ist sie, von der Politik ausstrahlend, geradezu ein Prinzip der freien Lebensführung schlechthin, das der gesamten sozialen Existenz des Menschen seinen Stempel aufdrücken sollte?
    Waren die Griechen, waren unter ihnen die Athener wirklich so besonders, so anders, so revolutionär in der Schöpfung einer neuartigen politischen Verfassung der breiten Bürgerbeteiligung? Vielleicht wissen wir über sie nur mehr, weil sie ihre Geschichte besonders dicht und in schriftlichen Quellen überliefert haben – und weil das klassische Griechenland lange Zeit im Zentrum eines liberalen westlichen Interesses

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