Was ist Demokratie
Beschlussfähigkeit garantieren, denn wichtige Entscheidungen setzten eine Mindestbeteiligung von 6000 Bürgern voraus.
Die Volksversammlung stand im Zentrum der athenischen Demokratie. Sie war, auch wenn sich nie alle Bürger an dem Abhang eines Hügels in Athen, Pnyx genannt, versammelten, geradezu mit dem Volk identisch; sie war, in heutigen Begriffen, der Souverän. Die Volksversammlung trat etwa vierzig Mal im Jahr für jeweils einen ganzen Tag zusammen und fasste Beschlüsse, die von kleineren tagespolitischen Angelegenheiten über die Verabschiedung von Gesetzen bis zur Entscheidung über Krieg und Frieden reichten. Ãber ein ungewöhnliches Machtinstrument verfügte sie mit dem 487 erstmals angewendeten Scherbengericht, dem «Ostrakismos». Einmal im Jahr konnten die Bürger damit in einer besonderen Abstimmung einen ihnen missliebig gewordenen politischen Führer für zehn Jahre in die Verbannung schicken. Am Ende des 5. Jahrhunderts löste ein neuer, sachbezogener Mechanismus den Ostrakismos ab. Nun konnte in der Volksversammlung eine besondere Form der Klage eingebracht werden («graphe paranomon»), wenn Zweifel an der GesetzmäÃigkeit eines Beschlussesbestanden. Man kann das als eine frühe Form der Normenkontrolle bezeichnen, wie sie heute ein Verfassungsgericht ausübt.
Der Volksversammlung war seit der Reform des Kleisthenes der «Rat der 500» vorgelagert, in den je 50 Bürger aus den zehn Phylen gelost wurden. (Aber sie «vertraten» diese Phylen nicht wie Abgeordnete in einem modernen Parlament; auch der Repräsentationsgedanke war den Athenern fremd.) Er verdrängte zunehmend den alten Adelsrat, den Areopag, bis zu dessen gänzlicher Entmachtung im Jahre 462/61. Der Rat tagte sogar fast täglich und bereitete die Beschlüsse der Volksversammlung vor. Man gehörte ihm für ein Jahr an, so dass im Laufe einer vergleichsweise kurzen Zeit ein sehr groÃer Teil der Bürger in den Rat der 500 hinein- und wieder heraus-«rotierte». Das galt auch für die Vielzahl der anderen Ãmter â mehrere hundert waren jedes Jahr zu besetzen. Zusätzlich war die Rechtsprechung unmittelbar in die Verfassung der Demokratie einbezogen. Jedes Jahr dienten etwa 6000 Bürger, erneut durch ein Losverfahren ausgewählt, in den «Dikasterien», den athenischen Volksgerichten. Jedem einzelnen Gerichtshof, der zu Beratung und Entscheidung zusammentraf, gehörten etwa 500 Richter an. Es ging also nicht um fachliche Kompetenz auf der Grundlage professioneller Schulung; auch kannten die Griechen kein kodifiziertes Rechtssystem, wie es in Rom etwas später entwickelt wurde, oder eine darauf gegründete Rechtskultur. Vielmehr ging es um dasselbe Prinzip der gleichen Partizipation der Bürger an Entscheidungen, die sie selbst betrafen â ob in «öffentlichen» oder «privaten» Angelegenheiten, denn erneut: Diese Unterscheidung trafen die Athener nicht.
So erinnert die Demokratie der Athener vor 2500 Jahren in vielen Zügen an das, was viel später (und bis heute) als unmittelbare, direkte oder Basisdemokratie diskutiert wird. Dennoch unterschieden sich die Voraussetzungen grundlegend, nicht nur hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen, geschweige denn der technologischen Bedingungen. Auch die Formen der Politik selbst lassen sich nur schwer übersetzen und auf heutige Begriffe bringen. Man kann zwar sagen, dass die Athener keine Gewaltenteilung kannten; Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz lieÃen sich nicht voneinander unterscheiden, und eine Exekutive, eine ausführende Gewalt, fehlte völlig im Sinne der modernen, zentralisierten «Regierung» eines Staates. Aber es wäre ebenso falsch, darin ein Defizit der antiken Demokratie zu sehen, wie man diese Amalgamierung heutiger Funktionen nicht romantisieren darf als eine ursprüngliche und bürger-authentische Form der Demokratie. Das komplexeGeflecht der Institutionen mit der Volksversammlung im Mittelpunkt bildete auch keinen Staat. Man kann allenfalls von einem Prozess institutioneller Verdichtung vom 6. bis zum 4. Jahrhundert sprechen, oder von einer zunehmenden Abstrahierung von Politik, verglichen mit der früheren Herrschaft der adligen Personenverbände.
Auch die moderne Demokratie legitimiert sich durch ihre â berechenbaren, überprüfbaren, möglichst transparenten â Verfahren. Die athenische
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