Was ist Demokratie
Reichsregierung seitdem auch auf die Länder und Gemeinden durchgreifen, im Vorgriff auf die «Gleichschaltung» der Länder, die in den folgenden Monaten abgeschlossen wurde. Die Verfolgung der Arbeiterparteien SPD und KPD und ihrer Abgeordneten erhielt eine pseudolegale Grundlage; zwischen Anfang Mai und Anfang Juli hörten sie unter dem Druck der Verfolgung ebenso auf zu existierenwie die bürgerlichen Parteien, die sich zum Teil in die «Selbstauflösung» retteten. Am 2.Mai, nach einem pompös inszenierten und nationalsozialistisch umgedeuteten «Tag der Arbeit», zerschlug das Regime in einer ebenso gezielten wie gewaltsamen Aktion die Freien Gewerkschaften, an deren Stelle wenig später die «Deutsche Arbeitsfront» trat. Mit dem «Gesetz gegen die Neubildung von Parteien» am 14. Juli 1933 war der politisch-gesellschaftliche Pluralismus vollständig beseitigt und die NSDAP einzige politische Partei in Deutschland.
Die «Gleichschaltung», die in vielen Bereichen Züge einer entgegenkommenden Selbstgleichschaltung trug, appellierte an die Einheit des «Volkes», oft auch an die Ãberwindung der sozialen Gegensätze seiner «Stände und Klassen», verabschiedete sich aber von der Freiheit des Individuums ebenso wie von politischer Vielfalt und demokratischen «checks and balances». Das ist bis heute eine wichtige Erinnerung daran, dass «Volkssouveränität» â auch wenn es sie im «Dritten Reich» nicht ansatzweise gab â zur Sicherung der Demokratie nicht ausreicht, sondern die Gewährung individueller Grundrechte und die (horizontale und vertikale) Gewaltenteilung fundamental bedeutend sind. Der Faszination einer «einfachen», nicht so kompliziert gebauten Demokratie, bei der die Herrscher sich direkt auf das einheitliche Volk berufen, kann man seitdem nicht mehr so leicht erliegen.
Wie man das so entstandene, in den folgenden Jahren weiter ausgebaute Herrschaftssystem am besten charakterisieren könne, ist seit langem Gegenstand von Kontroversen. Schon 1941 hat der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel aus seinem amerikanischen Exil einen «Doppelstaat» beschrieben, ein Begriff, der seitdem auch auf andere Diktaturen immer wieder angewendet worden ist. Einerseits fällt der legale Anstrich ins Auge, den sich das «Dritte Reich» gab. Viele bestehende Gesetze galten weiterhin, und neue Gesetze, mindestens teilweise auf formal «korrektem» Wege beschlossen, legitimierten die Diktatur, wenig später auch die rassische Verfolgung wie in den «Nürnberger Gesetzen» von 1935. Ein «Gesetzesstaat» freilich ist kein «Rechtsstaat», denn diesen macht nicht das Gelten irgendeines (gesetzten, «positiven») Rechtes aus, sondern ein klar definiertes Ensemble individueller Grund
rechte
.
Andererseits trat die Willkür neben diesen noch halb-berechenbaren Gesetzesstaat: Anordnungen von Behörden oder des «Führers» auÃerhalb der Gesetze; oder schlichtweg die Macht der gewaltsamen Aktion. Neben den «Normenstaat», so sagte Fraenkel, trat der «MaÃnahmenstaat».Dabei konnte man sich freilich nie sicher sein, in welchem Rahmen sich das Handeln des Regimes bewegen würde, und die Gewalt bildete seit den allerersten Wochen der Etablierung der Diktatur ein unverzichtbares Instrument der Machtsicherung und des Vollzugs der Ziele des Nationalsozialismus: Gegner waren zu «vernichten», ob es sich um Sozialdemokraten oder alle Juden Europas handelte. Auch der radikale Antisemitismus der NS-Diktatur trat bereits wenige Wochen nach dem 30. Januar unverkennbar hervor: Im «Normenstaat» mit dem «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» vom 7. April 1933, das jüdische Professoren, Richter und andere Staatsbeamte aus ihrer Stellung verdrängte; im «MaÃnahmenstaat» mit dem Boykott jüdischer Geschäfte sechs Tage zuvor.
Viele andere Spannungsverhältnisse charakterisierten das Herrschaftssystem des «Dritten Reiches». Die Grenzen zwischen Monopolpartei und Staatsorganen verschwammen; die NSDAP oder ihre Gliederungen maÃten sich staatliche Befugnisse an. (Auch diese Doppelung wird manchmal als «Doppelstaat» bezeichnet.) Kompetenzen blieben oftmals ungeklärt, so dass Partei- und Staatsorgane auch in Konkurrenz zueinander traten. Ãberhaupt etablierten die Nationalsozialisten auf dem Boden der
Weitere Kostenlose Bücher