Was ist Demokratie
kurzen Moment schien das wiedervereinigte Deutschland «angekommen» â in dem Ziel einer nationalstaatlichen Demokratie, stabil und lebhaft zugleich. Doch schon bald brachen neue Konflikte auf, als Folge einer unvollendeten Einheit ebenso wie als neue Fragen an die innere Lebensfähigkeit der Demokratieund das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in sie. In anderen Ländern bestimmen Zacken und Umbrüche das Bild von der eigenen Demokratiegeschichte zwar deutlich weniger: die politische Kultur GroÃbritanniens blickt meist auf einen sanften, glatt asphaltierten Anstieg zurück; in den USA wird öffentlich sogar häufig das Bild der weiten Ebene kultiviert, zeitlos und stabil, in der die Gegenwart fast so wie 1776 ist. Aber in Wirklichkeit sind Krisen, Erschütterungen, Rückschläge auch dort nicht ausgeblieben und reichen bis in die Gegenwart weiter.
Dennoch kommt der «GroÃen Krise» des frühen 20. Jahrhunderts eine besondere, eine historisch singuläre Bedeutung zu. Keine Krise der Demokratie vorher oder nachher war tiefer, weitgreifender oder folgenreicher. Das wird erst dann besonders deutlich, wenn man auf die Zeit zwischen Jahrhundertwende und frühen 1940er Jahren aus der Perspektive einer Demokratiegeschichte blickt, wie Historiker das seit einiger Zeit verstärkt tun, statt von dem Aufstieg der Gegenkräfte der liberalen Demokratie in dieser Zeit, dem Kommunismus und Faschismus, auszugehen. Denn es ging um mehr als um eine äuÃere Gefährdung «der» Demokratie, die oft als totalitäre Herausforderung der Zwischenkriegszeit beschrieben worden ist. Am Anfang stand vielmehr eine innere Verunsicherung darüber, was Demokratie in veränderter Zeit heiÃen könnte; die Frage, ob sie nur eine Ãbergangserscheinung sei oder etwas Dauerhaftes, und ob sie in der technischen, ökonomischen und sozialen Konstellation des neuen Jahrhunderts zu Ende gehe â oder ihre Zukunft erst recht noch vor sich habe. Die Ursprünge dieser inneren Sinnkrise der Demokratie reichen vor die ideologische Formierung des leninistischen Kommunismus wie des Faschismus und Nationalsozialismus zurück, erst recht vor deren Etablierung als politische Regimes.
Diese Krise traf nicht nur deshalb so schwer, weil vielen Zeitgenossen der Ãbergang in die technisierte und organisierte Massengesellschaft so schwer fiel â in jene Ordnung, die Historiker jetzt oft «Klassische Moderne» oder «Hochmoderne» nennen. Sie traf die moderne Demokratie zugleich in einer Phase, in der sie nicht mehr bloà oppositionelle Bewegung war, als Regierungsform und institutionelle Praxis aber, jedenfalls in weiten Teilen Europas, noch nicht lange und sicher genug etabliert. Schon im 19. Jahrhundert hatte es Phasen gegeben, in denen demokratischer Optimismus in Ernüchterung umschlug, oder in denen die alten Gegenkräfte, in Europa die spätabsolutistische Monarchieund der Adel, wieder obenauf waren. Vom Wiener Kongress 1814/15 bis in die 1820er Jahre reichte eine solche Phase der «Restauration», in der die Demokratie als die Krankheit einiger Wirrköpfe zu bändigen versucht wurde. Eine ähnliche Stimmung herrschte in der Zeit der «Reaktion» nach der Revolution von 1848, also im Europa der 1850er Jahre. In Anlehnung an Krisentheorien der Wirtschaftsgeschichte könnte man darin die letzte Krise «alten Typs» sehen. Die Krise, die um 1900 begann, war von einem ganz anderen Zuschnitt. Sie war kein Kampf einer jungen Bewegung gegen die Tradition mehr, und doch nur â wie wir längst wissen â so etwas wie eine Pubertätskrise der Demokratie.
Es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis sich in der westlichen Welt wieder ein annähernd vergleichbares Unbehagen in der Demokratie artikulierte. Nicht zufällig ging in dieser Zeit die groÃe Prosperitätsphase der Nachkriegszeit, das «Goldene Zeitalter» von Aufschwung und materieller Expansion zu Ende. Das Vertrauen in die Zukunft schwand; wirtschaftliches Wachstum und technische Entwicklung stieÃen nicht nur auf Grenzen, sondern schufen neue Probleme für Umwelt, Ressourcen und Lebensqualität. Die in dem berühmten Bericht des «Club of Rome» 1972 aufgezeigten «Grenzen des Wachstums» berührten sich mit der Frage, ob Demokratien angesichts komplexerer Anforderungen die politischen Aufgaben der Zukunft noch lösen könnten. Waren sie nicht
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