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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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damit zuerst ihre bürgerlichen Rechte, später sogar ihr physisches Existenzrecht verloren.
    Für die Loyalität der Volksgemeinschaft sorgte die schnelle Überwindung von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit durch Beschäftigungsprogramme und nicht zuletzt die Wiederaufrüstung. Dazu kamen Sozialleistungen und überhaupt eine Ausgestaltung der Arbeits- und Freizeitwelt, die manche herkömmlichen Unterschiede in der bis dahin scharf segmentierten und hierarchisierten deutschen Gesellschaft abmilderte. Arbeiter mussten sich gegenüber Büroangestellten nicht mehr so zurückgesetzt fühlen und hatten an einer neuen materiellen Kultur der Konsum- und Freizeitgesellschaft teil. In den 1960er Jahren sprach man geradezu von einer «sozialen Revolution», die der Nationalsozialismus mit dieser Egalisierung vollbracht habe. Man sah darin – wie Ralf Dahrendorf 1965 in seinem berühmten Buch über «Gesellschaft und Demokratie in Deutschland» – eine Voraussetzung für die westdeutsche Demokratie, die nicht mehr mit den Hierarchien und sozialen «Verwerfungen» des Kaiserreichs und der Weimarer Republik belastet war.
    Daran bleibt vieles richtig, was die Langzeitwirkungen einer gesellschaftlichen Demokratisierung betrifft, doch sind die Grenzen der Egalisierung im «Dritten Reich» eher wieder schärfer ins Bewusstsein getreten. Zum einen handelte es sich um eine Schein-Egalität, weil man ihre politische Formung, und damit ihre Unfreiheit, nicht außer Acht lassen darf. Zum anderen kannte sie nicht nur die rassische Grenze, die immer mehr eine Grenze von Leben und Tod wurde, sondern erkaufte Teile ihrer Gleichheit und ihrer Leistungen für die Dazugehörigen mit den Verlusten der Ausgeschlossenen. Das war ganz wörtlich und unmittelbar zu verstehen, wenn deutsche Volksgenossen während des Zweiten Weltkrieges Möbel, Kleidung oder Schmuck enteigneter, deportierter und ermordeter Juden günstig erwerben konnten. Auf dem Mechanismus sozialer «Gefälligkeiten» beruhte das «Dritte Reich» auch in seiner Anfangsphase zwar nicht entscheidend, und der Holocaust folgte einer anderen Logik als der eines Raubmordes. Aber die Vernichtung der Juden war doch ein Verbrechen, das auch «zum Wohledes Volkes» (Götz Aly) eingesetzt wurde. Erneut hält die NS-Zeit, so weit entfernt sie von Demokratie war, eine historische Erfahrung für heute bereit: Die Qualität von Demokratie kann sich niemals zuerst an den Leistungen messen, an einem materiellen «output», den ein Regime für ein wie auch immer definiertes Volk bereithält.
    Im Zweiten Weltkrieg wirkte das nationalsozialistische Deutschland noch in ganz anderer Hinsicht als Zerstörer von Demokratie. Im Streben nach einer deutschen und «arischen» Vorherrschaft über ganz Europa und darüber hinaus fielen ihm andere Demokratien zum Opfer, angefangen mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei noch vor Kriegsbeginn 1938/39. Im Westen waren das die Niederlande, Belgien und Frankreich, in Nordeuropa Dänemark und Norwegen, im Osten Polen und die baltischen Staaten, auch wenn einige von diesen selber schon den Weg der Demokratie in Richtung Autoritarismus verlassen hatten. Ohnehin führte Hitler seinen großen Krieg zwar dezidiert gegen die westliche Demokratie, aber mehr noch, besessen von Antisemitismus, Antislawismus und Antikommunismus, gegen die Sowjetunion und für den zukünftigen «Lebensraum» des deutschen Volkes im Osten. 1943 gelangte dieses Reich auf den Höhepunkt seiner Ausdehnung und die lange Krise der Demokratie damit auf ihren Tiefpunkt.
9 Nach 1945: auch eine Krisengeschichte
    Man kann sich die Geschichte der Demokratie überhaupt als die Geschichte einer «Krise» vorstellen. Gerade in der deutschen Geschichte gab es allenfalls kurze Phasen, in denen das Gefühl einer überzeitlichen Stabilität, eines «Angekommen-Seins» in einer demokratischen Normalität vorherrschte. Für die «alte» Bundesrepublik waren das am ehesten die 1980er Jahre, als man sich an die Teilung gewöhnt hatte, das autoritäre und Nazi-Erbe in der politischen Kultur definitiv abgearbeitet und die inneren Konflikte und Anfechtungen der späten 60er und der 70er Jahren ausgestanden waren. Aber dann riefen Menschen jenseits der Mauer «Wir sind das Volk!», die Mauer fiel, und die Geschichte ging weiter. Nur für einen

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