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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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überfrachtet mit Anforderungen und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, die durch Prosperität und die Expansion des Sozialstaats immer weiter wuchsen? Und verloren dieselben Bürger nicht gleichzeitig das Interesse an der Demokratie und engagierten sich weniger, jedenfalls auf den dafür gewohnten Plätzen, besonders in politischen Parteien? Politikwissenschaftler und Publizisten sprachen von einer Krise der «Regierbarkeit» und stellten manchmal pointiert fest, moderne Demokratien seien «unregierbar» geworden.
    Die Motivlage hinter solchen Diagnosen ähnelte derjenigen des frühen 20. Jahrhunderts durchaus. Denn wieder ging es um eine technische und ökonomische Modernisierung, mit der die Leistungen der Demokratie angeblich nicht mithalten konnten. Die Rede von der bürokratischen Überforderung entsprach dem früheren Hinweis auf Organisation und Hierarchie; technokratische Ideale von Gesellschaft und Politik erlebten seit der Mitte der 1960er Jahre eine zweite Blüte. Die Stunde von Eliten schien für manche wieder gekommen, auch wenn damit in der Regel nur eine Akzentverschiebung innerhalb der demokratischenPraxis gemeint war, keine Alternative eines neuen Führertums. Eine ernsthafte institutionelle Alternative zur Demokratie, wie sie in den 1920er Jahren die Diktatur dargestellt hatte, gab es nach 1945 nicht mehr – das prägt ihre Krisen und Anfechtungen bis heute und mildert sie gegenüber der Herausforderung des frühen 20. Jahrhunderts erheblich ab. Auch war die Reichweite der Debatte viel enger begrenzt; weithin diskutierten Wissenschaftler, Intellektuelle, Experten und einige Politiker über die vermeintliche Unregierbarkeit unter sich. Dennoch kann man die Konstellation der mittleren 70er Jahre als die «kleine Krise» der Demokratie im 20. Jahrhundert bezeichnen.
    Sie war auf jeden Fall grenzüberschreitend und verknüpfte Erfahrungen in Westeuropa, den USA und sogar in Japan, wie ein 1975 erschienener Bericht der «Trilateral Commission», eines von David Rockefeller gegründeten Think Tanks der westlichen Nachkriegsdemokratie, feststellte. Er begann mit einem Hinweis auf Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes», schlug also selber, etwas kokett, die Brücke in die größere Krise der Zwischenkriegszeit. Wieder mache sich Pessimismus über die Zukunft der Demokratie breit, und tatsächlich sei sie durch neue Entwicklungen gefährdet, ihre Steuerungsfähigkeit zu erhalten. Es drohe das Szenario einer «anomischen», also ihre innere Ordnung verlierenden, man könnte auch sagen: einer diffusen und chaotischen Demokratie. Überwiegend waren es eher konservative Wissenschaftler, die diese skeptische Diagnose stellten, auch und gerade in der westdeutschen Debatte. Karl Kaiser aus München und Erwin Scheuch aus Köln beteiligten sich an dem Bericht der «Trilateral Commission»; Wilhelm Hennis legte in Freiburg die Stirn in Sorgenfalten ob der zukünftigen Regierbarkeit der Bundesrepublik. Auch darin lag eine Kontinuität zu der früheren, großen Krise, wenngleich diese Konservativen inzwischen entschieden auf dem Boden der liberalen Demokratie standen. Aber es war doch bezeichnend, dass nicht nur eine Überforderung demokratischer Institutionen bei ihnen Ängste auslöste, sondern auch soziale und kulturelle Veränderungen wie ein Wertewandel der jüngeren Generation, in dem man weniger die Chance zu neuer Partizipation als die Gefahr eines Rückzugs in das private Idyll der Selbstverwirklichung sah.
    Ein optimistischer Liberaler wie Ralf Dahrendorf wandte sich denn auch gegen die Unterstellung einer Krise der Regierbarkeit und der Demokratie überhaupt. Er warnte vor einer Verklärung einer Vergangenheit, in der Probleme angeblich noch ohne weiteres lösungsfähig waren.Er weigerte sich, politische Steuerung in der Demokratie «von oben nach unten» zu denken, als Aufgabe von Regierungen und Bürokratien, statt als einen offenen Markt des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern. Dahrendorf wagte sogar die Prognose, dass aktuelle soziale Trends die Demokratie weniger gefährdeten als vielmehr «den Diktaturen dieser Welt das Leben erheblich schwerer machen». Damit prophezeite er, im Mai 1975, fast schon die später von Samuel P. Huntington so genannte «dritte Welle» der Demokratisierung im 20.Jahrhundert, die in Südeuropa

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