Was ist Demokratie
gerade begonnen hatte, aber in Osteuropa noch vollkommen utopisch erschien. In der deutschen Debatte attackierten Linke wie Jürgen Habermas und Claus Offe den Unregierbarkeitsdiskurs scharf als den Versuch eines neokonservativen
rollback
gegen die inzwischen erreichte Liberalisierung der Bundesrepublik, als Sehnsucht nach einer «halbierten» Moderne, die sich mit technischer und kapitalistischer Effizienz begnügen, demokratische Partizipation aber möglichst im Zaum halten wolle.
Offe begann seine Kritik am Krisengerede freilich mit einem Hinweis auf manche Parallelen zwischen konservativen und sozialistischen Wahrnehmungen: Die «Neue Linke» in den westlichen Ländern war ihren Antipoden sogar seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre vorausgegangen, als sie ihre erheblichen und grundsätzlichen Zweifel an der liberalen Demokratie formulierte und um 1970 auch wirkungsvoll in die Ãffentlichkeit trug: In der Phase des «Spätkapitalismus», der sich immer mehr in seine eigenen Widersprüche verwickle, sei sie mit diesem dem Untergang geweiht, denn es handle sich bei ihr â und darin lag unverkennbar eine Parallele zum Krisendiskurs des frühen 20. Jahrhunderts â um ein historisches Ãbergangsprodukt der liberal-individualistischen Gesellschaft. So gesehen, muss man die «kleine Krise» der 70er Jahre doch etwas gröÃer fassen: Sie schlieÃt den linken und den rechten Pessimismus zwischen 1965 und 1975 ein, die linke wie rechte Ãberzeugung von der Endlichkeit der Demokratie in einer historischen Sackgasse, die man so oder so â sei es durch ein neues Elitenregime oder durch eine sozialistische Revolution â überwinden müsse. Von irgendeiner gröÃeren Durchschlagskraft blieben beide Positionen weit entfernt. Denn beide unterschätzten oder übersahen nicht nur die Chancen globaler Demokratisierung, auf die Dahrendorf hingewiesen hatte, sondern vor allem das Potential einer inneren Entwicklung der Demokratie in der Mitte der westlichen Gesellschaften. Dabei hatte eine neue partizipatorische Revolution vor aller Augen längst begonnen,und in Studenten- und neuer Frauenbewegung war die «Neue Linke» sogar ein Teil von ihr.
Ob das beginnende 21. Jahrhundert einmal als eine weitere Krise der Demokratie beschrieben wird, ist noch offen. Die antiwestliche Herausforderung des islamischen Fundamentalismus wird öfters als eine Art «dritter Totalitarismus» gesehen und damit ganz ausdrücklich den Bedrohungen im frühen und mittleren 20. Jahrhundert zur Seite gestellt. Und wie die damalige Krise als eine innere Verunsicherung begann, so spielten auch im letzten Jahrzehnt die «hausgemachten» Schwierigkeiten eine weitaus gröÃere Rolle als jede äuÃere Kampfansage: Vertrauensverlust und politisches Desinteresse, die schwindende Glaubwürdigkeit von Politikern und Parlamenten â und nicht zuletzt erneut die Wahrnehmung einer wiederum beschleunigten technisch-ökonomischen Moderne im Zeitalter von Globalisierung, Finanzkapitalismus und digitaler Revolution, bei der die Demokratie, so meinen manche, nur den Kürzeren ziehen könne. Die historische Erfahrung lehrt aber, über die gesamte Krisengeschichte der Demokratie hinweg, dass man mit solchen Diagnosen vorsichtig sein sollte. Denn einerseits hat die Demokratie bisher immer noch Ãberlebensfähigkeit bewiesen, zwischen Hartnäckigkeit und Innovationsfähigkeit. Zum anderen lernt man aus der Krisengeschichte: Auf demokratische Defizite hinzuweisen, wenn nötig vehement, oder sie einzuklagen, wenn nötig revolutionär, ist eine Sache. Eine andere, ein gefährliches Spiel mit dem Feuer aber ist die offenbar nicht totzukriegende Ãberzeugung von der geschichtlichen Endlichkeit der Demokratie, deren Niedergang gerade jetzt bevorstehe. Das war die fatale Ãberzeugung des frühen 20. Jahrhunderts: sich selber in einem historischen Moment gerade jenseits des Scheitelpunkts einer Parabel zu befinden, von dem aus nur noch eine fallende Kurve denkbar ist. In manchen Diagnosen einer «Post-Demokratie» lebt genau dieses Missverständnis bis heute fort.
VII Lernprozesse
Demokratie muss immer gelernt werden. Auf die groÃe Krise folgte Ernüchterung. Die Zeit der emphatischen Erwartungen war vorbei â hier und jetzt, in der Gegenwart, sollte demokratische Verfassung leidlich gut funktionieren, vor allem im
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